Eine Straße im Zentrum von Sofia, 2022. | Photo: ©fb) Sofia F. Barca

Sofia, bald eine gesichtslose Stadt?

Bulgariens Hauptstadt hat sich seit 1989 durch einen „Bauboom“ stark verändert. Dabei wurden weder Regeln zur Stadtplanung noch das architektonische Erbe respektiert. Noch anstehende Neubauten könnten Sofia für immer verunstalten, wie eine 3D-Karte des Open-Data-Aktivisten Boyan Jurukow zeigt.

Veröffentlicht am 23 Januar 2025
Sofia F. Barca Eine Straße im Zentrum von Sofia, 2022. | Photo: ©fb)

In Bulgarien sind die Spuren der Abwanderung deutlich sichtbar. Seit 1989 hat das Land Mühe, sie zu bremsen. Viele Bulgaren haben leere Häuser hinterlassen. Manche haben sie über Nacht verlassen und zurückgeblieben sind oft  Geisterstädte. Der Balkanstaat zählt aktuell nur noch 6,4 Millionen Einwohner. Er gilt als das ärmste Mitglied der Europäischen Union mit einem Mindestlohn von 550 Euro. Die wirtschaftliche und demografische Vitalität der Hauptstadt steht jedoch in krassem Gegensatz zum Rest des Landes.

Mit ihren 1,5 Millionen Einwohnern ist Sofia für fast 40 % des nationalen BIP verantwortlich. Die Stadt hat sich zu einer attraktiven regionalen Metropole mit einem jährlichen Wachstum von über 15 % entwickelt. Noch immer niedrige Steuern und Löhne ziehen ausländische Investoren an, die einen Teil ihrer Geschäfte auslagern möchten, und es gibt ein sehr aktives Ökosystem im IT-Sektor. Die wirtschaftliche Dynamik der Stadt zeigt sich an den großen Boulevards mit ihren brandneuen Bürogebäuden und Glastürmen, die die Bulgaren als Business Center bezeichnen.

Dennoch ist sehr wahrscheinlich, dass die meisten der 528.000 ausländischen Touristen, die Sofia im Jahr 2023 besuchten, im monumentalen Stadtzentrum geblieben sind, wo sich die Sehenswürdigkeiten befinden, die in Reiseführern oder trendigen Vlogs stehen. Die Touristenrouten haben sich seit den großen Zeiten von Balkantourist, der berühmten staatlichen Reiseagentur aus der Zeit des Kommunismus, kaum verändert. Das vom imposanten Zar-Befreier-Boulevard geteilte Stadtzentrum ist wahrscheinlich der einzige Teil Sofias, der sich seit Ende des sozialistischen Regimes nicht verändert hat.

Doch nur wenige Schritte davon entfernt ist der Charme der Wiener Wohnviertel in Sofia für immer verschwunden. Sie sind einer brutalen Sanierung und einer immer sichtbarer werdenden Gentrifizierung zum Opfer gefallen. Und die zahlreichen Baustellen in diesem Stadtteil sind noch nichts gegen die tiefgreifenden Veränderungen, die im Rest der Stadt vor sich gehen. Viel beeindruckender sind sie in den Randbezirken, wo sich riesige Wohngebiete im Bau befinden, so wie in Studenski Grad, Orlandowtsi, Manastirski Livadi, Owtscha Kupel oder an den Hängen des Witoscha-Bergs. 

Abgesehen von der Zubetonierung zahlreicher Grünflächen fällt der eklatante Mangel an Stadtplanung ins Auge. Diese Neubauten scheinen weder durch eine bestehende Infrastruktur, einen öffentlichen Nutzen noch durch eine gemeinsame architektonische Vision gerechtfertigt zu sein. Das geht so weit, dass es für die Bewohner fast unmöglich ist, sich das Ausmaß der aktuellen und zukünftigen Schäden vorzustellen. 

Dabei helfen könnte die von Bojan Jurukow entworfene 3D-Stadtkarte von Sofia. Jurukow ist Aktivist und kämpft gegen die Korruption in seinem Land. Er hat sich für die liberale Partei Ja, Bulgarien (Mitte-Rechts) engagiert und ist bekannt für die Erstellung von online verfügbaren Open-Data Tools. 

Für seine Stadtkarte hat er Daten aus verschiedenen städtischen Ämtern extrahiert, um die gesetzlich erlaubten Bauvorhaben in 3D darzustellen. Durch die Modellierung möglicher Projekte hilft dieses Tool dabei, die bevorstehenden Veränderungen in der gesamten Stadt, aber auch in der eigenen Nachbarschaft oder sogar vor der eigenen Haustür zu visualisieren.

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Blick auf Sofia. In Rot: alle gesetzlich genehmigten Bauprojekte, die umgesetzt werden könnten. Karte von Bojan Jurukow, Screenshot von Hugo Dos Santos.

Die Karte ging in den sozialen Netzwerken viral und wurde sogar in der Presse diskutiert. Bojan Jurukow selbst schaltete sich in die Medien ein und machte deutlich, dass seine Karte weder Baustellen in Echtzeit noch bestätigte Baugenehmigungen darstellt: „Dies ist nur der Anfang eines Dialogs. Die Karte vermittelt einen allgemeinen Eindruck davon, wie sich Sofia heute entwickelt. Sie gibt auch eine Vorstellung davon, wie die Stadt in ein paar Jahren aussehen wird, wenn sich die Planung nicht ändert.“ 

Die Karte wurde im Einvernehmen mit der neuen Stadtverwaltung erstellt, die darin wahrscheinlich eine Gelegenheit sieht, die Fehler aus früheren Amtszeiten aufzudecken. Die undurchsichtige Stadtentwicklung gilt als korrupt und wird dementsprechend heftig kritisiert. Jurukow will durch seine Karte Licht ins Dunkel bringen: „Ich möchte eine raumbezogene Visualisierung dieser Daten schaffen, die bis jetzt in den Archiven verschiedener Verwaltungen verstreut waren und sie öffentlich zugänglich machen. So können die Bürger die Entwicklung ihrer Stadt selbst in die Hand nehmen, indem sie auf Projekte achten, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft entstehen könnten.“

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In Rot: mögliche Projekte in einem Wohngebiet im Stadtzentrum. | Karte von Bojan Jurukow, Screenshot von Hugo Dos Santos.

Doch was genau offenbart diese Karte? Zunächst einmal eine gewaltige Menge an gesetzlich erlaubten Bauvorhaben mit großen Flächen und teilweise sehr hohen Gebäuden sogar mitten in der Stadt. Sollten diese Bauprojekte tatsächlich so umgesetzt werden, wird Sofia nicht mehr wiederzuerkennen sein. Hinzu kommt, dass sich das Stadtbild seit dem Ende des Kommunismus bereits stark verändert hat. Seit den 2000er-Jahren musste sich die Stadt aufgrund von chaotischen Baustellen und zweifelhaften Kontrollen immer wieder neu erfinden. Laut dem bulgarischen Statistikinstitut (INS) gab es seit 2004 offiziell 4.008 Baustellen. 2004 waren es allerdings nur 13, 2023 dagegen 522, was einem Anstieg von 400 % entspricht. 

Gebaut wurde auf Brachland, am Rande des Naturparks Witoscha, auf den Grünflächen der sozialistischen Blöcke, in öffentlichen Parks und sogar in den Gärten der historischen Wohngebäude im Stadtzentrum. Eine weitere Verdichtung würde zahlreiche Probleme mit sich bringen, wie zu wenig Platz für Verkehrsmittel, monströse Staus und Umweltverschmutzung.

2023 wurden laut INS insgesamt 1 165 653 m2 Neubauten aus dem Boden gestampft, davon 10 887 Wohnungen. Im selben Zeitraum hat die Bevölkerung der Stadt jedoch nur um 6 631 Einwohner zugenommen. Seit 2013 wurden 9 372 359 m2 und 78 672 Wohnungen gebaut, wobei die Stadt im selben Zeitraum 22 669 Einwohner verloren haben soll. Für wen werden all diese neuen Wohnungen also gebaut? In Sofia schießen die Immobilienpreise in die Höhe und die Bulgaren fragen sich, warum: + 15,1 % im Jahr 2023, das ist der zweithöchste Anstieg in der EU. Laut Eurostat ist Bulgarien eines der Länder der Union, in denen die Immobilienpreise mit + 113,4% seit 2015 am stärksten gestiegen sind.

Einer der Gründe für den Preisanstieg scheint die Attraktivität des bulgarischen Immobilienmarkts für ausländische Investoren zu sein, die durch niedrige Steuern, Preise, die zu den günstigsten in Europa gehören und solide Gewinnaussichten gelockt werden. Die bulgarische Wochenzeitung Capital berichtet, dass der größte Eigentümer in Sofia der dänische Investmentfonds SEE Residential ist. Das Unternehmen, das sein Vermögen bis 2030 vervierfachen will, baut Wohnungen im „skandinavischen Stil“ für Langzeitmieter.

Dies ist eine kleine Revolution in einem Land, in dem laut INS im Jahr 2023 noch 85 % der Einwohner Eigentümer waren. Eine weitere lokale Besonderheit ist, dass angeblich mehr als 30 % der Wohnungen in Sofia offiziell nicht bewohnt sind. Die bulgarischen Eigentümer ziehen es vor, sie leer, aber verfügbar zu halten, um die Rückkehr ihrer ins Ausland ausgewanderten Verwandten in die Heimat zu erleichtern. Ein Teil dieser Wohnungen soll punktuell von Familienmitgliedern oder Bekannten genutzt werden.

Seit einigen Jahren ist auch ein wachsendes Interesse von Investoren und privilegierten Schichten an den Wohngebieten im Stadtzentrum zwischen Wassil-Lewski-Boulevard, Hristo-BoteW-Boulevard, Sliwinitsa-Boulevard und Dondukow-Boulevard zu beobachten. In diesen Vierteln gab es ursprünglich dicht beieinanderliegende Pavillons oder kleine Wohnhäuser, die durch große Gärten miteinander verbundenen und von baumbestandenen Hinterhöfen umgeben waren. Während einige bemerkenswerte Gebäude vom Institut für bulgarisches Kulturerbe unter Denkmalschutz gestellt wurden, drohen viele dieser bescheidenen und schlecht beheizbaren Häuser dem neuen Bauboom zum Opfer zu fallen.

So wurden viele Parzellen bereits durch moderne Gebäude ohne jegliche architektonische Nähe zur Nachbarschaft ersetzt, die die vorherigen Gebäude um mehrere Stockwerke überragen, und die Gärten wurden vollständig zubetoniert. Schlimmer noch, die Bemühungen der Bulgaren, ihre Architektur zu bewahren, scheinen sich auf das kommunistische Erbe zu konzentrieren. Auch wird die Gentrifizierung dieser Viertel beschleunigt, so wie durch das Kwartal-Festival, dessen negative Auswirkungen der Anthropologe Nikola Wenkow untersucht hat.

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Beispiel eines gigantischen Hochhauses im Zentrum von Sofia. | Karte von Bojan Jurukow, Screenshot von Hugo Dos Santos

Nach Ansicht des Forschers hat das Festival die ursprüngliche Identität des Viertels, die sie eigentlich wiederbeleben sollte, kaputtgemacht. Nikola Wenkow erklärt, wie „Sofias Chefarchitekt Zdrawko Zdrawkow sich darüber gefreut hat, dass das Festival die Immobilienpreise im nördlichen Teil des Stadtzentrums in die Höhe getrieben hat, und er die Organisatoren sogar aufforderte, es auf die benachbarten Viertel auszuweiten, weil die Preise dort noch zu niedrig waren.“

Um die Mentalität der vorherigen Stadtverwaltung zu verdeutlichen, zitiert der Anthropologe einen der aktivsten Stadträte jener Zeit, Wili Lilkow, nach dessen Meinung die Hauptaufgabe [darin] bestand, den Immobilienpreis in die Höhe zu treiben. “Denn je teurer Ihre Wohnung ist, desto reicher und zufriedener sind Sie mit der Regierung der Stadt, die Sie reich gemacht hat.“

Weiter an der Peripherie gelingt es entschlossenen Anwohnern manchmal, sich der Gier der Bauunternehmer und der Untätigkeit der Behörden zu widersetzen. Der erfolgreiche Kampf des kleinen Viertels Musagenitsa gegen die Zerstörung einer Grünfläche ist beispielhaft. Nach jahrelangen Demonstrationen und Petitionen gelang es, den Bau eines 35 Meter hohen Gebäudekomplexes zu stoppen. Auch andere Initiativen haben in letzter Zeit in den Medien Schlagzeilen gemacht, etwa in den Stadtteilen Studenski Grad, Zona B5 oder Opalschenska.

Alle diese Kollektive fordern das Gleiche: mehr Transparenz, die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, was in der Nähe gebaut wird und Sofia zu bewahren - angefangen bei den Grünflächen. Genau das ermöglicht die Karte von Bojan Jurukow: „Ich konnte Projekte für 15-stöckige Gebäude identifizieren, die auf öffentlichem Gelände für genehmigt erklärt wurden. Ich habe die Stadtverwaltung dazu befragt. Planen Sie, diese Grundstücke zu verkaufen? Warum bauen sie dort keine Kindertagesstätte oder Schule?, aber ich habe darauf natürlich keine Antwort erhalten.”

In Partnerschaft mit dem European Data Journalism Network

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