Und jetzt Deutschland!

Am 1. Mai ist Schluss mit den Quoten, die für Arbeitnehmer aus mehreren ehemals kommunistischen Ländern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt beschränken. Während von deutscher Seite eine Welle billiger Arbeitskräfte aus Polen befürchtet wird, verspricht die polnische Seite Vorteile für die deutsche Wirtschaft.

Veröffentlicht am 5 April 2011 um 14:15

„Unter deutschen Betten“, so lautet der Titel eines Buchs, das eine polnische Putzfrau unter dem Pseudonym Justyna Polanska in Deutschland veröffentlicht hat. Die Autorin erzählt vom Unrat, den sie in den Häusern ihrer Kunden fand, und wie sie von ihren Arbeitgebern behandelt wurde. Für die Justyna Polanskas wird sich nach dem 1. Mai nichts ändern. Sie werden weiter in deutschen Haushalten putzen und weiter schwarz. Doch trotz allem weckt die Öffnung des Arbeitsmarkts beim deutschen Nachbarn starke Emotionen.

100.000 Menschen werden pro Jahr in Deutschland eintreffen

Laut einer Umfrage, die das Institut IMAS kürzlich durchführte, sind zwei Drittel der Deutschen davon überzeugt, dass die Einwohner der neuen EU-Staaten massenweise auf Arbeitssuche bei ihnen einfallen werden. Und knapp 70 Prozent glauben, dass sich das für Deutschland negativ auswirken wird – nur 16 Prozent denken das Gegenteil. Noch alarmierender ist die in der Welt am Sonntag veröffentlichte Umfrage, laut welcher drei Viertel der Befragten meinen, dass die Deutschen infolge der Quotenaufhebung für Polen, Tschechen und die Bewohner der nach 2004 beigetretenen EU-Staaten nach und nach ihre Arbeitsplätze verlieren werden.

Wer das heutige Deutschland gut kennt, wird von den Ergebnissen dieser Umfragen nicht überrascht sein. Schließlich haben die deutschen Regierungen ja insbesondere unter dem Druck der Öffentlichkeit nacheinander die siebenjährige Übergangszeit für die Öffnung des Arbeitsmarkts beachtet und alle Restriktionen zwei Mal verlängert, gegen den Rat der Wirtschaftsexperten. Doch die Polen haben sich nicht darüber beschwert. Im Gegenteil, sie haben gelernt, mit der deutschen Bürokratie zurechtzukommen und die deutschen Gesetzeslücken zu nutzen.

In den letzten Jahren arbeiteten nach Angaben des polnischen Statistikinstituts 400.000 Polen ganz legal in Deutschland. Noch viele mehr haben eine Stelle in Großbritannien gefunden, das seinen Markt 2004 öffnete.

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Die meisten deutschen Experten sind der Meinung, dass nach dem 1. Mai nichts Außerordentliches passieren wird. Joachim Müller, Leiter der Forschungsabteilung in einer Agentur für Arbeit, glaubt, dass jedes Jahr 100.000 Menschen in Deutschland eintreffen werden: aus den neuen Mitgliedsstaaten, zum Großteil aus Polen. Nach Angaben der polnisch-deutschen Handelskammer wird die Aufhebung der Sperren innerhalb von ein paar Jahren 200.000 bis 400.000 Polen zum Auswandern bewegen. Die meisten werden aus grenznahen Gebieten kommen, aber auch aus Masowien und Oppeln. Es wird sich dabei eher um eine regionale Auswanderung handeln, die mit der Auswanderung nach dem EU-Beitritt Polens nichts gemein hat.

Die Job-Center reiben sich schon die Hände: Die Arbeitgeber werden es nicht zugeben, doch viele rechnen mit den Polen. Die Deutschen suchen vor allem Leute mit höherer Ausbildung – Ärzte, Krankenschwestern, Informatiker –, doch sie sind auch interessiert an Zeitarbeitern wie etwa Lageristen, sagt Karina Kaczmarczyk von Work Service International.

Polnischen Informatiker bleiben bisher lieber zuhause

Die Deutschen beschweren sich schon sehr lange über den Mangel an Informatikern. Die Spezialisten der neuen Technologien entscheiden sich nämlich lieber für die USA als für Europa. Es laufen zwar deutsche Rekrutierungskampagnen in mehreren Ländern, doch ohne großen Erfolg, denn die polnischen Informatiker bleiben lieber zuhause. Pflegehelferinnen und Hebammen sind hingegen bereit, in Deutschland zu arbeiten, aber nur vorübergehend. Und was die polnischen Ärzte betrifft, die gehen lieber nach Großbritannien. Es sind also vorwiegend die Arbeitnehmer mit niedrigen Qualifikationen, die ein Grundvokabular brauchen und für die Auswanderung nach Deutschland geeignet sind.

Die Polen werden in Deutschland noch andere Chancen haben: So wird etwa die Bundewehr, wie die polnische Armee, zur Berufsarmee. Eine Arbeit, die junge Deutsche nicht machen wollen. Also erwägt das Verteidigungsministerium, junge Leute mit Hauptwohnsitz in Deutschland einzustellen, selbst wenn sie keine deutschen Staatsangehörigen sind. Unter den Hunderttausenden von polnischen Bürgern, die bald ihr Glück auf dem deutschen Arbeitsmarkt suchen, werden sich schon welche finden, die bei den deutschen Streitkräften Karriere machen wollen. Ein stärkeres Symbol für das vereinte Europa kann man sich kaum vorstellen. (p-lm)

Aus Sicht Polens

Ein Geldsegen fürs Heimatland

Nach Angaben der Dziennik Gazeta Prawna schickten die im Ausland arbeitenden Polen im Jahr 2010 4,2 Milliarden Euro nach Hause. Dieses Jahr dürfte es noch mehr sein, durch die Aufhebung der Sperren für polnische Bürger in Deutschland, durch die bessere Konjunktur im Westen und durch die bessere Lage der Arbeitsmärkte. Die Warschauer Tageszeitung ist der Meinung, dass bald 500.000 Menschen nach Deutschland auswandern könnten. Den Berechnungen der polnischen Landesbank zufolge schickten die jenseits der Oder arbeitenden Polen letztes Jahr 1,15 Milliarden Euro nach Polen. Seit dem EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 haben die Emigranten knapp 27,5 Milliarden Euro nach Polen transferiert und diese Überweisungen sind ein „wesentliches Element der nationalen Wirtschaft“ geworden. Ein Geldsegen, der jedoch zur Neige gehen könnte, falls die Emigranten nach und nach auf die Rückkehr in die Heimat verzichten und sich endgültig im Ausland niederlassen.

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