Unsere arme Literatur...

Die Rumänen haben die Freizügigkeit, Informations- und Redefreiheit, aber verachten ihre eigene Sprache und Kultur, schreibt ein rumänischer Publizist. Wen wundert es, wenn der Analphabetismus alle Rekorde bricht?

Veröffentlicht am 24 Januar 2013 um 12:51

Man muss nicht besonders belesen sein, um zu begreifen, dass in Rumänien 2011 viel weniger Bücher verkauft wurden als in Ungarn, unserem viel kleineren Nachbarland [60 Millionen Euro gegen 180 Millionen Euro].

Man muss kein Kommunist sein, um festzustellen, dass in der heutigen Zeit der Analphabetismus wieder ein dringliches Thema ist, während er in den 50er Jahren größtenteils fast verschwunden war. [6 Prozent der Bevölkerung und 40 Prozent der Jugendlichen unter 15 haben keine solide Grundlage in Lesen und Schreiben.]

Man muss auch nicht einer Partei angehören, um zu verstehen, dass sich in Rumänien die Regierungen jedweder Couleur in ihrem Bestreben, die nationale Kultur zu vernachlässigen und zu unterschätzen gegenseitig überbieten. Unterstützt werden sie dabei lautstark von den meisten großen postkommunistischen Verlagen,, die meistens das Interesse verfolgen, mit Übersetzungen und abschätzigen Berichten über die aktuelle rumänische Kultur schnelles Geld zu machen. Wer das nicht glauben mag, der kann ja den Anteil der rumänischen Bücher dem Gesamtmarkt der Verlagswirtschaft gegenüberstellen.

Übersetzungen ersetzen nicht die Landesliteratur

Heute stehen wir wieder im Zeichen einer ähnlichen kulturellen Übergangszeit wie jene am Vorabend der 1848er Revolution. Wir werden wieder an den Punkt kommen, an dem uns jemand darauf hinweisen muss, „dass Übersetzungen noch lange keine Literatur schaffen“, dass sie die Literatur nicht ersetzen können und es auch gar nicht müssen, weil das genuine freie literarische Schaffen in der eigenen Sprache und im Namen eines unverwechselbaren Ethos, nicht ersetzbar ist.

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Heute scheint es indes wieder notwendig — wie anstrengend — dass ein Herr (Mihail) Kogalniceanu [1817-91, liberaler rumänischer Staatsmann] auf den Plan tritt und uns erklärt, dass nichts von dem, was am Potomac Fluss, in St. Petersburg oder in Tokyo geschrieben wird, und wenn es noch so interessant und spannend ist, in der Lage sein kann, unsere Sorgen und Nöte literarisch zu vermitteln, die uns im [Bukarester Stadtteil] Obor, an den Flüssen Bega oder Bahlui oder im Apuseni- Gebirge umtreiben, wo es reichlich Inspirationsquellen für künstlerisches Schaffen gibt.

Der Potomac Fluss, St. Petersburg und Tokyo können unseren kulturellen Horizont nur in dem Maße wirklich erweitern, als sie uns anleiten, dazu bewegen, anregen, in einen Dialog treten mit dem, was das Leben für und durch uns unmittelbar bereithält.

Landessprache nicht über Bord werfen

Wer anderer Ansicht ist, wer einwirft, die rumänische Kultur sei in der Zwischenzeit völlig überflüssig und unnütz geworden, wer das rumänische Können allein auf das Durchsetzungvermögen reduziert, um einen Beraterposten bei internationalen Unternehmen oder übermächtigen Konzernen zu ergattern, der tue, wonach ihm der Sinn steht. Man kann schliesslich niemandem die Schuld dafür geben, dass er es sich in seinem kurzen Menschenleben so einrichtet, wie es ihm am besten passt.

Uns übrigen bleibt dann nur noch die Freude, das gebe ich gern zu, die — überflüssigen?! — Bücher eines Ion Ghica, Creangă oder Sadoveanu, unserer unübersetzbaren Literaten zu lesen.... Warum gelten nur die Wünsche der Unkritischen als moralisch vertretbar, und das, was wir fordern, gilt als unrechtmäßig? Ich denke nicht, dass uns ein historischer Sprung gelingen kann, wenn wir unsere nationale Kultur und die Sprache, in der wir bei uns zu Hause schreiben und veröffentlichen, einfach über Bord werfen.

Kreatives Aufeinandertreffen mit dem Westen

Heute ist es so, dass wir, was die Kreativität angeht, in einer Epoche leben, in der sich eine ganze Reihe wertvoller Stimmen im Bereich des rumänischen künstlerischen Schaffens kräftig Gehör verschaffen. In gewissem Sinne ist dies auch das Ergebnis von 20 Jahren Freizügigkeit, Informations- und Redefreiheit in Rumänien, das Ergebnis des Kontaktes mit der anregenden Atmosphäre und dem unmittelbaren Aufeinandertreffen mit dem Westen und dem Rest der Welt. Wir können tief einatmen und haben es geschafft, darüber nach Gutdünken zu schreiben, zu malen, zu komponieren, wenn auch nicht mit entsprechender wirtschaftlicher Entspanntheit.

Aber machen wir uns nichts vor: die Zahl der Analphabeten nimmt zu, die Qualität der Bildung scheint zu sinken und sich zu verengen, das Problem der zahlenmäßig wichtigsten Minderheit, der Roma, scheint weit davon entfernt zu sein, gelöst zu werden, und sei es auch nur was die Schulpflicht betrifft, und die Anzahl der Rumänen.... sinkt immer weiter.

Worauf warten wir also noch, um endlich die Würde eines Volkes und einer Kultur zu verteidigen, die bis gestern noch auf der Höhe ihrer Erwartungen war? Glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass wir Partner einer europäischen Gemeinschaft werden können, die technisch hoch entwickelt ist, wenn wir keine Bildung und keine feste Identität haben, die dem neuen Zeitalter gerecht werden können?

Fremde im eigenen Land

Wir erwarten zwar von den Ungarn in Rumänien, dass sie sich korrekt im Rumänischen ausdrücken, sind aber selbst nicht einmal bereit, unsere Sprache entsprechend kulturell zu würdigen. Wir lassen nur gelten lassen, was auch in der Hegemonialsprache des Augenblicks ausgedrückt wird.

Dieses unendliche Vortäuschen von etwas, das wird nicht sind, die unterwürfige Nachahmung, können nicht die Lösung sein und geben uns keinerlei Glaubwürdigkeit.

Solange wir uns selbst diskreditieren, durch unsere Institutionen und unsere nationale Politik, solange die Bildung nur nachrangige Bedeutung hat, werden wir bei den Bürgern nur Verwirrung stiften, billige, unqualifizierte Arbeitskräfte für die großen Weltkonzerne liefern und werden als Simulanten in der Geschichte eingehen. Wie ist es heute um das Schicksal Rumäniens bestellt? Fremde sind wir im eigenen Land...

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