Der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso

Vermisst: José Manuel Barroso

Kaum einer erinnert sich noch daran, dass es die EU-Kommission war, die den Haushaltsentwurf erarbeitet hat, über den die EU-Spitzen derzeit verhandeln. Aus gutem Grund: Präsident Barroso ist wie vom Erdboden verschwunden. Ein politischer „Selbstmord“, meint der Brüssel-Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération.

Veröffentlicht am 23 November 2012 um 16:22
Der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso

Die EU-Kommission ist in der politischen Versenkung verschwunden. Wer noch daran zweifelte, konnte sich in den vergangenen Tagen mit den eigenen Augen davon überzeugen: Obwohl sie ihren Entwurf des Haushaltsplans 2014-2020 (der „mehrjährige Finanzrahmen“) verteidigen müsste, bei dem es sich wohlbemerkt um die wichtigste Entscheidung der Legislaturperiode handelt, die der Union für die kommenden sieben Jahre den Weg weisen soll, fehlt die EU-Kommission schlicht und einfach bei den Debatten. Und ohnehin interessiert sich niemand mehr dafür, was sie zu sagen hätte, weder die Staaten noch die Medien noch die Menschen. Es ist kein Mord, sondern vielmehr ein Selbstmord, der hier stattfindet und für den José Manuel Durão Barroso verantwortlich ist. Der Kommissionspräsident stellt sich mehr und mehr als eine Katastrophe für jene Institution heraus, die vor noch nicht allzu langer Zeit der Motor der europäischen Integration war.

Historisch gesehen engagiert der Kampf um den Haushalt in der Regel die gesamte Kommission: Sie hat das Heft in der Hand, denn sie ist es, die den Entwurf vorlegt und den Mitgliedsstaaten eine Orientierung gibt, insofern es diesen wiederum gelingt, ihrer öffentlichen Meinung im Land die Nützlichkeit der Sache zu vermitteln. Kein leichtes Unterfangen für eine Institution, deren Legitimität auf wackeligen Beinen steht. Denn dafür braucht es viel politisches Geschick. Politik bedeutet schließlich — muss daran noch erinnert werden? — nicht nur handeln, sondern auch andere überzeugen, dass man das Richtige tut.

Barrosos politisches Testament

Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors (1985-1995) war in dieser Hinsicht ein Meister seines Fachs. Er erfand 1987 die „EU-Finanzperspektive“, den mehrjährigen Haushaltsplan, der dem alljährlichen Drama um den Haushalt ein Ende bereiten sollte. Er ließ kein politisches Feld außer Acht. Eine wahre Sklavenarbeit, die sich aber auszahlte. Ich habe 1992 die Verhandlungen um das Delors-II-Paket mitverfolgt (1993-99) und kann mich noch an die lange Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit erinnern, die damals von der Kommission gegenüber den Medien geleistet wurde, die bekanntlich als Vermittler gegenüber der europäischen Öffentlichkeit fungieren. Delors selbst, aber auch sein Staatssekretär Pascal Lamy, die Generaldirektoren der EU-Kommission und alle anderen beteiligten sich, um auf Pressekonferenzen, in Interviews und „off the record“ zu erklären, worum es geht und dies mit Zahlen zu belegen. Eine unglaublich effiziente Überzeugungsmaschinerie, die auch noch unter Jacques Santer und Romano Prodi funktionierte.

Unter Barroso ist sie ins Stocken geraten. Der Mann war nie ein guter Kommunikator und fühlt sich vor der Presse sichtlich unwohl. Man hätte jedoch hoffen können, dass der Haushaltsrahmen 2014-2020, gewissermaßen sein politisches Testament, ihn wachrütteln würde. Nichts da! Er war vielmehr noch schlimmer als zuvor. Eine spät einberufene und rasch abgewickelte Pressekonferenz am 29. Juni 2011, um das dicke Kommissions-Dokument den Medien vorzustellen. Ohne Vorbereitung, ohne vorherige Räumung des Minenfeldes. Wie soll man Fragen stellen, wenn man den Plan erst bei der Pressekonferenz bekommt? Also wurschtelte sich jeder durch, so gut er konnte, was angesichts der Komplexität des Themas keine sehr Selbstverständlichkeit war. Ein einziger Kommissionssprecher nahm sich der Aufgabe an, den Finanzplan für die anwesenden Medienvertretern in groben Zügen zu entschlüsseln.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Freie Bahn für die Staaten

Und seither? Nichts, absolut nichts. Ein Jahr ohne Öffentlichkeitsarbeit: ein abwesender Präsident, der vor allem damit beschäftigt ist, den Einfluss von Ratspräsident Van Rompuy gegenüber den Ländern und dem Europa-Parlament in Grenzen zu halten; EU-Kommissare, die, wie gelähmt, kaum mit den Medien zu sprechen wagen; Generaldirektoren, die sich hinter ihren Schreibtischen verkriechen, anstatt zu erklären, worum es in den Verhandlungen überhaupt geht. Ergebnis: freie Bahn für die Staaten, die ungeniert all das, was sie an den Vorschlägen der Kommission kritisieren, von sich geben (und man kann sagen, sie scheuen sich nicht gerade). Und nun muss also Herman Van Rompuy anstelle der Kommission ran, um ausgehend von deren vorgelegten Zahlen doch noch einen Kompromiss zu erarbeiten. Van Rompuy hat die Führung der Verhandlungen übernommen und er kommuniziert, wie er nur kann. Ein Gegenüber gibt es nicht.

Denn die EU-Kommission, anstatt im Mittelpunkt der Verhandlungen zu stehen, ist schlicht und ergreifend verschwunden. Mit Schmollen oder durch Verstecken hinter den Kulissen kann man in Brüssel keinen Einfluss ausüben oder auch nur einen Blumentopf gewinnen. Wer kann sich noch an das letzte Interview von Barroso erinnern? Die Antwort ist einfach: Niemand, denn er redet nicht mehr mit den Medien. Und mit seiner Rede vom 21. November vor dem Europäischen Parlament wird er auch nicht retten können, was eventuell noch zu retten wäre. Kaum ein Medienvertreter ist nach Straßburg gereist, da sich alle auf das Treffen der Eurogruppe und die Vorbereitungen des Sondergipfels konzentrierten. Ganz in sein institutionelles Spiel vertieft hat Barroso vergessen, dass er auch — wenn nicht sogar als erster — die europäischen Bürger überzeugen muss. Dass er Politiker und kein Lobby- oder Büroangestellter ist. Nun wird er gleich in zweierlei Hinsicht verlieren: gegenüber den Staaten, welche die Kommission mit jedem Tag mehr übergehen, und gegenüber den Menschen, die kaum noch wissen, wer er eigentlich ist. Hut ab!

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema