Presseschau Kroatiens EU-Beitritt

Vorsicht vor dem Traum eines XXL-Europas

Mit dem EU-Beitritt Kroatiens am heutigen 1. Juli kann die Union wieder einmal zeigen, dass sie ein lebendiges Projekt bleibt. Allerdings löst sie damit kein einziges Problem. Der neue Beitritt wirft die Frage der Zukunft der EU und ihrer Grenzen auf, betont die europäische Presse.

Veröffentlicht am 1 Juli 2013 um 13:48

Der Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union ist „ein klares Zeichen für die Lebenskraft der europäischen Idee”, freut sich Rzeczpospolita. Die Tageszeitung aus Warschau stellt fest, dass

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Europa sich trotz seiner zahlreichen Probleme vergrößert und weiterentwickelt. Das Experiment, in dessen Verlauf das europäische Solidaritätsideal der Gemeinschaft für Kohle und Stahl in einen modernen Universalismus übergegangen ist, bleibt eine der wichtigsten Lehren für die Region und den Rest der Welt. Die Tatsache, dass Kroatien sich [von nun an] in der Umlaufbahn Brüssels befindet, bedeutet nicht nur mehr Sicherheit in Europa, sondern ist auch ein weiterer Schritt auf dem Abrüstungsweg einer der instabilsten Gegenden des Kontinents.

In Amsterdam erinnert Trouw an den EU-Beitritt Sloweniens im Jahr 2004 und daran, dass die EU mit Kroatien nun den „zweiten Splitter des ehemaligen Jugoslawiens“ in ihren Kreis aufnimmt.

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Auf diese Weise wird der entsetzlichen Krise in Jugoslawien, die vor einem Viertel Jahrhundert ausbrach und unzählige Menschenleben forderte, mitten in Europa ein Ende gesetzt. Genau so, wie der vorangegangene Fall des Eisernen Vorhangs dafür gesorgt hatte, dass die Staaten Mittel- und Osteuropas integriert werden. [...] Selbstverständlich weiß auch die EU, dass nicht jede Erweiterung unbedingt auch eine Verbesserung bedeutet. Allerdings ändert dies nichts an der Tatsache, dass jeder Schritt auf ihrem Weg von historischer Bedeutung ist: Auf einem in Schutt und Asche liegenden Kontinent ging es [damals] mit sechs Mitgliedsstaaten los. Inzwischen sind es fast 30 und keiner ist mehr des anderen Feind.

„Mitten in [einer Hochphase] euroskeptischer Haltungen“ zeigt der Beitritt Kroatiens, dass „die EU trotz der Krise und des Auflebens von Nationalismen noch immer attraktiv ist“, meint Les Echos. Allerdings warnt die französische Wirtschaftszeitung auch vor den „Fallen eines XXL-Europas“:

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Wir wissen, dass diese Erweiterung ganz sicher nicht die letzte ist. [...] Dabei war Europa schon zu 27 weitestgehend unregierbar. [...] Wie wird es in Zukunft zu über 30 möglich sein, sich angesichts Amerika, China, Russland und Indien Gehör zu verschaffen? [...] Die [Mitglieder der] Europäischen Union müssen sich auf ihren endgültigen Grenzverlauf einigen und ihre Daseinsberechtigung neu definieren.

Nach Meinung von El País macht der EU-Beitritt Kroatiens deutlich, dass die Menschen „außerhalb von Europa zuversichtlicher sind, als innerhalb [der EU-]Grenzen“. Außerdem beweist der Beitritt, dass es so etwas wie „eine anhaltende Nachfrage nach Europa gibt“. Allerdings wird das Einstimmigkeitsprinzip laut der Tageszeitung aus Madrid in Zukunft

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vor oder während jeder neuen Erweiterung abgeschafft werden müssen, [zumindest] was die wichtigsten Abstimmungen angeht. Der Grund: Das Vetorecht lähmt die Entscheidungsfindung einer Gemeinschaft mit so vielen [Mitgliedern]. Europa muss an seine Interessen denken. Und das Wichtigste ist nun einmal, Komplikationen in den Entscheidungsprozessen zu verhindern, schließlich wäre [Europa] sonst zum Scheitern verurteilt.

„Kroatien tritt der EU bei, Frustrationen bleiben“, meint Adevărul. Die Tageszeitung aus Bukarest betont, dass

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das Ereignis genau in dem Augenblick stattfindet, in dem immer mehr Briten davon überzeugt sind, dass ein Austritt aus der Union die beste Lösung ist, in dem die Griechen begreifen, dass die Gaben mit immer höheren Zinsen bezahlt werden müssen, und in dem Rumänen und Bulgaren einsehen, dass die Straßen der westlichen Hauptstädte auch nicht mit Gold gepflastert sind.

Unterdessen macht sich Público in Lissabon Sorgen um dieses „europäische Wunschdenken“. Die Tageszeitung erinnert an den Krisenkontext, in dem Kroatien der Union beitritt und schreibt:

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Während Angela Merkel in Brüssel auf eine Ausgabenzurückhaltung der Staaten drängt, muss sie hinnehmen, dass Kroatien 14 Milliarden Euro aus den europäischen Geldtruhen erhält, um die kroatischen Entwicklungsprogramme bis 2020 zu finanzieren. In der Zwischenzeit gibt sich das gleich nebenan gelegene Slowenien, dass dem „Club“ 2004 beitrat, alle Mühe, um ein Rettungspaket zu verhindern und einen Staatsbankrott zu vermeiden. [...] Niemand weiß, ob die Union, die all das überleben wird, noch immer jene sein wird, für die ihre Gründungsväter gekämpft haben. Bleibt zu hoffen, dass sich letzten Endes nicht auch noch herausstellt, dass sie selbst nur ein Wunschtraum war.

Unterdessen bedauert die Tageszeitung, dass die deutsche Bundeskanzlerin nicht an den am 30. Juni in Zagreb organisierten Feierlichkeiten teilgenommen hat. Mit viel Humor findet die Kolumnistin der Tageszeitung aus Berlin, dass

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die Kroaten die allergearschtesten aller EU-Bürger sind, weil der allerwichtigste Verbündete des Landes den allerunbekanntesten Vertreter der deutschen Regierung [Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Link] zu den allergrößten Feierlichkeiten, die dieser Staat je veranstaltet hat, entsendet. [..] Da hat man die Telekom schon reingelassen, als die letzten Serben noch nicht mal vertrieben waren, Straßen und Plätze nach [dem früheren Außenminister] Hans-Dietrich Genscher, [Altkanzler] Helmut Kohl und Deutschland umbenannt und sich sogar für den 3:0-Sieg bei der Fußball-WM 1998 entschuldigt, und nun wird man behandelt wie der allergrößte Depp.

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