Demonstranten am 1. Mai 2013 in Madrid mit einem Banner, auf dem die Zahl des vorläufig letzten registrierten Arbeitslosen steht.

Warum die Spanier nicht aufbegehren

Fünf Jahre Krise, 6 Millionen Arbeitslose und Tausende von Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden: Trotz der verheerenden sozialen Bilanz ertragen die Spanier ihr Schicksal, ohne sich gegen ihre Regierung oder die EU aufzulehnen. Wohl weil sie fürchten, auch das Wenige, was ihnen noch bleibt, zu verlieren, vermutet ein Soziologe.

Veröffentlicht am 6 Mai 2013 um 11:37
Demonstranten am 1. Mai 2013 in Madrid mit einem Banner, auf dem die Zahl des vorläufig letzten registrierten Arbeitslosen steht.

Die Krise dauert schon bald fünf Jahre. Die fortschreitende Arbeitslosigkeit, die Verarmung und die gesellschaftliche Ausgrenzung nehmen ein erschreckendes Ausmaß an. Es gibt bereits Kinder, die unter Fehlernährung leiden. Tausende von Familien wurden aus ihren Wohnungen vertrieben. Die Löhne und Gehälter sinken, während die Preise für Waren und Dienstleistungen steigen.

Die Menschen haben verstanden, dass die gegenwärtige Situation sich nicht rasch bessern wird, sondern noch einige Jahre andauern kann. Warum gibt es angesichts dieser Lage keine Volkserhebung? Warum bricht das System nicht zusammen? Was muss die spanische Gesellschaft noch auf sich nehmen, bevor ein Aufstand ausbricht?

Es ist schwierig, sich Verhältnisse vorzustellen, die eine Revolte stärker begünstigen könnten. Erstens sind die Auswirkungen der Krise schrecklich. Wie kann ein Land mit 6 Millionen Arbeitssuchenden überleben? Die Arbeitslosigkeit dürfte zudem wegen der schwachen Binnennachfrage weiter steigen. Die Ersparnisse und öffentlichen Hilfen, mit denen sich viele über Wasser gehalten haben, sind erschöpft. Diejenigen, die noch Arbeit haben, leben oft am Existenzminimum und sind in der Schattenwirtschaft tätig.

„Interne Entwertung”

Zweitens treibt die von der Europäischen Union verordnete strenge Sparpolitik das Land weiter ins Elend und schiebt einen möglichen Konjunkturaufschwung in immer weitere Ferne. Statt durch staatliche Ausgaben und Investitionen die rückläufige Nachfrage der Privathaushalte wettzumachen, setzt die Regierung weiterhin den Rotstift an. Je stärker sich die Krise verschärft, desto schwächer wird die soziale Absicherung der Menschen, die von Arbeitslosigkeit und Verarmung bedroht sind.

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Es mag brutal klingen, aber die Europäische Union und die spanische Regierung scheinen die Ansicht zu vertreten, dass die Krise nur gelöst werden kann, wenn die meisten Spanier in Armut versinken. Das nennt sich Erholung durch „interne Entwertung“ [Lohnsenkung durch hohe Arbeitslosigkeit, damit die Wirtschaft wieder international wettbewerbsfähig wird].

Drittens gibt es die weit verbreitete Auffassung, dass nicht alle dieselben Opfer bringen müssen und einige ungerechterweise mehr zu leiden haben als andere. Die Zwangsräumungen sind nur ein anschauliches Beispiel von vielen. Der Staat gewährt den Banken großzügige Hilfen und verschuldet sich auf gefährliche Weise, um die Finanzinstitute des Landes zu sanieren, findet aber keine Lösung für all jene, die wegen der Krise ihre Hypotheken nicht mehr tilgen können. Das mangelnde Verständnis der Behörden und das Verhalten der beiden großen Parteien löst bei den meisten Spaniern allgemeine Empörung aus.

Viertes befinden wir uns in einer hoffnungslosen Lage. Die Regierung mag uns weiterhin eine baldige Erholung versprechen, aber wir alle wissen, dass wir uns in einer tiefen Rezession befinden und dass uns noch viele schwierige Jahre bevorstehen.

Schließlich haben wir es mit einer unglaublich korrupten und ineffizienten Regierungspartei zu tun. Es ist unglaublich, dass in einer so ernsten Lage der Regierungschef wegen der illegalen Finanzierung der von ihm geleiteten Partei erpresst wird.

„Es gibt keine Alternative”

Und dennoch steigen die Spanier nicht auf die Barrikaden. Warum?

Zum einen gibt es keine Alternative. Niemand schlägt einen Weg vor, der sich von dem bereits eingeschlagenen Kurs unterscheidet. Keine Ideologie könnte als Grundlage für einen wirkungsvollen Widerstand dienen. Die Spanier sind wütend, sie lehnen das wirtschaftliche und politische System ab, aber ihre Wut kristallisiert sich nicht in einer Bewegung, die eine kollektive Bedrohung darstellt.

Zum anderen besitzt Spanien trotz der allgemeinen Verarmung der Bevölkerung einen hohen Entwicklungsstand. Hochentwickelte Demokratien sind außergewöhnlich stabil. Sie halten beinahe alles aus. Wissenschaftler machten eine erstaunliche Feststellung: So soll noch nie eine Demokratie mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen als dem argentinischen im Jahr 1975 zusammengebrochen sein.

Starker politischer Konservativismus

Spanien hat auch jetzt im fünften Krisenjahr noch ein viel höheres Pro-Kopf-Einkommen. Aus diesem Grund wird es wohl zu Spannungen und Gewalttaten, aber nicht zu einem allgemeinen, die Demokratie bedrohenden Aufstand kommen. Erstens, weil der Staat sehr mächtig ist und den Protest unterbinden kann, zweitens, weil es noch viele Wohnungseigentümer oder Sparer gibt, die ihr Geld an der Börse angelegt haben und nicht bereit sind, sich in ein Abenteuer mit einem ungewissen Ausgang zu stürzen. Unser Entwicklungsstand gewährleistet uns auf allen Ebenen einen starken politischen Konservativismus.

Die fehlende öffentliche Debatte in Spanien über den Verbleib im Eurosystem zeigt wohl am deutlichsten, dass die Spanier zwar wütend sind, jedoch keine Risiken eingehen wollen. Obwohl es sich herausgestellt hat, dass die Währungsunion eine Falle war, will so gut wie niemand die Kosten eines Ausstiegs aus der Union tragen. Die Spanier sind über ihre Parteien und Institutionen empört, obgleich der Großteil der Probleme auf der (höheren) Ebene des Eurosystems und der von den nordeuropäischen Ländern geprägten wirtschaftspolitischen Maßnahmen entsteht.

Die europäischen Institutionen werden zwar von der Bevölkerung nicht mehr geschätzt, diese Abneigung hatte jedoch keine Folgen, weil die Unterstützung für den Euro noch immer massiv ist. Und deshalb wird es in Spanien auch nicht zu einem Aufstand kommen.Wir ertragen also weiterhin eine Situation, die eigentlich unerträglich ist.

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