Warum so viel Hass?

Europa sieht sich selbst als wohlwollende, friedliche Macht, die als Vorbild in der ganzen Welt beneidet wird. In Wirklichkeit wird es wahrgenommen als buntes Sammelsurium, als alte Kolonialmacht, die sich heute als abgeschottete Festung hinter den Vereinigten Staaten verschanzt. Wenn Europa Bedeutung haben will, dann muss es sich ändern.

Veröffentlicht am 3 Juni 2010 um 16:32

Kurz nach dem 11. September stellten viele amerikanische Kommentatoren im Refrain dieselbe Frage: "Warum hassen sie uns?" Die Amerikaner hatten sich immer als wohlwollende Macht betrachtet und waren ganz verstört vom Anblick jubelnder Menschenmengen in Gaza oder im Libanon, welche die Zerstörung des World Trade Center feierten. Heutzutage können sich allerdings die Europäer genau wie die Amerikaner die Frage stellen, warum ihnen die Welt so wenig Respekt entgegenbringt. Während einst ein chinesisches Weißbuch Europa noch als "die aufsteigende Großmacht der Welt" bezeichnete, spottet seit mehreren Wochen der Chor der internationalen Kommentatoren über Europas Machtambitionen.

Kishore Mehbubani, der Dekan der Lee Kwan Yew School of International Affairs in Singapur, beanstandet, dass Europa heute nicht mehr versteht, "wie irrelevant es für den Rest der Welt geworden ist", während Richard Haass, Vorsitzender des US Council on Foreign Relations, öffentlich seinen "Abschied an Europa als hochrangige Macht" bekanntgab. Und dies sind nicht etwa Stimmen aus der wilden Pampa oder aus radikalen Randgruppen. Mahbubani ist der Dekan eines der aufsteigenden Politikinstitute Asiens und Haass ein langjähriger, unparteiischer Diplomat.

Spottwelle auf unserern friedvollen, moralpredigenden Moloch

Warum schlägt denn die Spottwelle über den europäischen Ländern zusammen? Schließlich haben die Europäer, mehr noch als die Amerikaner, durchaus das Recht, ihren Kontinent als einen grundsätzlich gutartigen Einfluss zu sehen. Europa ist ein friedvoller Moloch, ein unbeholfener Haufen von Nationalstaaten, deren Engagement im Ausland sich darauf zu beschränken scheint, Entwicklungshilfe auszuteilen und lange, wenn auch ausschweifende Konferenzen abzuhalten. Natürlich haben wir auch unsere internen Probleme, doch nicht in einem Ausmaß, das die Verachtung der Eliten in Delhi, Peking oder Kairo verdient.

Warum also wurden die Hochrufe so schnell zu Hohnrufen? Ich glaube nicht, dass dies als Neid abgetan werden kann: Außenstehende sind nicht einfach nur eifersüchtig auf europäische Löhne, Urlaubstage und Renten. Ich glaube auch nicht, dass sie an dem qualvollen Prozess der internen Beschlussfassung innerhalb Europas verzweifeln, ganz gleich wie oft dieser seit Lissabon Schlagzeilen machte. Statt dessen lege ich eine etwas unbequemere Wahrheit nahe. Länder auf der ganzen Welt ärgern sich schon lange über die Einmischung und die Moralpredigten aus dem Westen und haben heute genug Vertrauen gefasst, um ein Europa, dessen internationaler Einfluss nicht mehr als selbstverständlich angesehen wird, zu verunglimpfen.

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Europa? - Eine Kolonialmacht ewig zufriedenen Eigendünkels

Da wäre als Beispiel für unsere begrenzte "Soft Power" die Tatsache, dass ich, wenn ich Leute auf der ganzen Welt frage, was "Europa" für sie bedeutet, immer überrascht bin, wie wenig sie von Sozialdemokratie oder Menschenrechten oder sogar dem "guten Leben" sprechen. Der überwältigende Großteil erwähnt die Erinnerung an Europa als Kolonialmacht und unseren ewigen zufriedenen Eigendünkel. Während Europa die Geschichte mit den Jahreszahlen 1918, 1945 und 1989 markiert, erinnert sich der Rest der Welt noch an 1842, 1857 und 1884, und wird das auch weiterhin tun. Es gab schon oft Gelegenheit, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu setzen, und doch sehen viele Europa als eine abgeschlossene Festung, die wenig Chancen auf Integration oder Innovation bietet.

Kann sich Europa von dieser Vergangenheit loslösen? Die Antwort lautet ja, doch wenn Europa der multilateralistische Leader werden soll, als den wir es gerne hätten, dann erfordert das dringend ein neues Image. Der erste Schritt wäre, ein inklusiveres Image zu präsentieren, nämlich das eines für neue Leute und neue Ideen offenen Kontinents: In Amerika passierte zwar dadurch, dass der Sohn eines Kenianers zum Präsidenten gewählt wurde, nur wenig, um die Ungleichheiten in den armen Großstadtviertel auszurotten, doch mit einem einzigen Schlag konnte sich das Land als globale Nation neu definieren und erneuern. Europa besitzt erfolgreiche Migranten, doch trauriger Fakt ist, dass es in Stalins Politbüro mehr ethnische Vielfalt gab als in der heutigen Europäischen Kommission.

Raus aus der Festung

Zweitens können wir versuchen, der Außenwelt eine einheitliche Historie vorzuführen. Für uns ist die Geschichte am Liebsten eine sehr christliche Erzählung von Sündenfall und Erlösung, die Geschichte eines durch jahrhundertelange Kriege und Eroberungen verwüsteten Kontinents, der auf den Trümmern von 1945 beschloss, mit sich selbst Frieden zu schließen und seine Kolonialambitionen aufzugeben. Wenn wir diese Geschichte nur glaubwürdig erzählen könnten, dann könnte die Europäische Union die multilaterale Führungsrolle, die sie anstrebt, auch einnehmen. Doch jedes Mal, wenn wir der Außenwelt gegenüberstehen, verrutscht die Maske ein bisschen; alte nationale Rivalitäten und Intrigen stehen hinter ihr hässlich hervor vor.

Wenn es daran geht, den UN-Sicherheitsrat zu reformieren oder über Rechte in den Bretton-Woods-Institutionen abzustimmen, schalten wir auf stur und stecken den Kopf in den Sand: Ich bin ehrlich überzeugt davon, dass die Deutschen nicht wissen, wie lächerlich sie wirken, wenn sie einen weiteren Sitz im Sicherheitsrat verlangen, wo es doch noch keinen Platz für Indien gibt. Ebenso wird viel mit Europas gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik hergemacht, doch in den afrikanischen EU-Missionen – dem einzigen substantiellen Engagement außerhalb der europäischen Nachbarschaft – ist es schwer, die postkolonialen Machenschaften im französischen, belgischen und britischen Interesse falsch zu verstehen.

Respekt lässt sich nicht erkaufen

Weiter täten wir ebenfalls gut daran, nicht mehr zu glauben, dass durch das Zahlen immer höherer Summen an Auslandshilfe auch Respekt gewonnen wird – vor allem wenn diese Beträge an einen nicht enden wollenden moralisierenden Diskurs gekoppelt sind. Was die Armen dieser Welt wollen, ist nicht unser Geld, sondern unsere Achtung. Wir verteilen unablässig Hilfsgelder und überlegen kaum, ob das Geld denn effizient eingesetzt wird oder wie wir damit die lokale Politik verzerren. Dadurch zeigen wir uns noch geringschätziger als wenn wir gar nichts spendeten. Wir müssen erst noch die Lehre aus Chinas diplomatischen Erfolgen in Afrika ziehen: Sie kommen daher, dass Entwicklungsländer weniger an Fortschritt interessiert sind als an Ergebnissen.

Und schließlich muss Europa aufhören, sich hinter den Vereinigten Staaten zu verstecken, und damit anfangen, für seine eigenen Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. Doch dies kann nicht geschehen, solange Europa von einer Mitte-Rechts-Gerontokratie geleitet wird, die lieber an der Atlantik-Vergangenheit festhält als sich an unsere multipolare Gegenwart anzupassen. Unsere Staatsoberhäupter verbringen ihre Zeit damit, sich an die Quotenteilnahme an der NATO zu klammern, sich auf Präsident Obamas "will-er-doch-oder-will-er-nicht"-Teilnahme am gemeinsamen EU-US-Gipfel zu fixieren und sich um ihre de-jure-Macht in den Bretton-Woods-Institutionen zu streiten, wenn sie doch erkennen sollten, dass sich die Spielregeln ändern und die alten Netzwerke rapide an Einfluss verlieren. Ironischerweise scheinen die Amerikaner das heutzutage besser zu verstehen als wir. (pl-m)

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