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Ägyptische Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, 18. März 2011

Was die Revolutionen für uns bedeuten

Welche Lehren kann Europa heute, ein paar Monate nach dem Beginn der arabischen Revolutionen, ziehen? Für Arshin Adib-Moghaddam, Professor an der London University, sollte es nicht dem Mythos eines Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen erliegen und vielmehr eine ambitioniertere, unabhängige Diplomatie betreiben.

Veröffentlicht am 30 Mai 2011 um 14:03
Ägyptische Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo, 18. März 2011

Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Marsmensch, der gerade auf der Erde gelandet wäre und nichts über der Nahen Osten wüsste. Wie würden Sie mir erklären, was da in der arabischen Welt passiert?

Es handelt sich da um eine große Erhebung zugunsten von Demokratie und Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenrechten. Und es passiert zum ersten Mal seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs. Im Grunde genommen sind alle arabischen Länder aus dem Zerfall dieses Reichs entstanden. Manche von ihnen haben eine gesonderte Geschichte als Nationalstaat, wie der Iran, die Türkei, in gewissem Grad auch Saudi-Arabien, doch die Kolonialzeit hat die Inlandpolitik dieser Länder enorm beeinflusst.

Somit entstanden autoritäre Staatsstrukturen, weil die neuen Staaten versuchten, die Idee dessen zu erschaffen, was es bedeutet, Syrier, Iraker, Jordanier usw. zu sein. Die Aufstände nun haben ihren Ursprung in der Gesellschaft selbst und verlangen eine neuartige Politik. Neue TV-Sender übertragen völlig unabhängig, und auch das ist etwas Neues in dieser Region. Ihnen ist es zu verdanken, dass ein neuartiges politisches Bewusstsein, ein neues Politikverständnis und somit auch neue Forderungen aufkommen konnten, nämlich Forderungen nach einer Rechenschaftspflicht der Machthabenden und nach sozialer Gerechtigkeit.

Bedeutet das, dass die arabischen Gesellschaften nun dieses Vermächtnis des Autoritarismus überwinden? Was ist eigentlich wirklich passiert?

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Um das Phänomen des Autoritarismus in dieser Region zu verstehen, müssen wir begreifen, dass die Länder die Erben eines brutalen Abschnitts des Kolonialismus und des postkolonialen Widerstands sind. Die militärischen Anführer setzten statt organisch gewachsener Staatsstrukturen sich selbst an der Staatsspitze ein. In Europa entwickelten sich diese Strukturen über Jahrhunderte hinweg. Es gab die Französische Revolution, zwei Weltkriege, Hitler, Mussolinis Kriege und Francos Kriege. Die Zivilgesellschaft in Europa entwickelte sich sehr langsam, und so erwuchs daraus eine bewährte, erprobte und lebensfähige Demokratie. Die arabische Welt hatte jedoch nie den „Luxus einer Geschichte“. Doch heute haben sich die von der Basis emporgewachsenen Strukturen gegen die Autorität des Staats und seine Souveränität erhoben. Es gibt keinen Weg zurück.

Was bedeuten die arabischen Revolutionen für Europa?

Es gibt viele sicherheitstechnische und strategische Herausforderungen, weil das politische Terrain im Wandel begriffen ist. Es entstehen Regierungen, die mehr auf ihre Gesellschaft hören werden, und es entstehen Gesellschaften, die eine vom Westen unabhängige Außenpolitik verlangen werden. Es ist kein Zufall, dass Ägypten und Tunesien den Eingriff in Libyen nicht befürwortet haben. Ägypten schickt sich auch an, seine Beziehungen zum Iran zu erneuern, was bis vor kurzem völlig tabu war. Die EU und die USA werden sich auf Situationen in dieser Region vorbereiten müssen, die sie weit weniger kontrollieren können als noch vor einem Jahr. Hier sind Ähnlichkeiten mit Lateinamerika zu sehen, wo die Regimes früher dem Westen sehr viel fügsamer waren. Genau wie imperialistische Einmischungen dort heute nicht mehr möglich sind, werden sie es auch in Westasien nicht mehr sein.

Ist das etwas wie eine zweite Dekolonisationswelle? Weniger direkten politischen Einfluss des Westens, aber dafür ein größerer Einfluss der westlichen Ideen?

Auf jeden Fall. Schließlich wurde während der arabischen Revolutionen kein offener Anti-Amerikanismus an den Tag gelegt. Die Türkei kooperiert mit Europa und verfolgt trotzdem auch ihre eigenen Ziele. Ich persönlich halte das für gut. Das bedeutet einen Beitrag zur Sache des Friedens in der ganzen Region. Im Nahen Osten brauchen wir eine Sicherheitsstrategie, die nicht den Interessen äußerer Akteure dient.

Wie beurteilen Sie die Politik des Westens gegenüber den arabischen Revolutionen?

Die Politik der Europäischen Union sollte sehr viel unabhängiger von den Vereinigten Staaten sein als sie es bis jetzt war. Das hat sich in vieler Hinsicht gezeigt, etwa im Irak, im Israel-Palästina-Konflikt und kürzlich erst im Iran. Europa sollte seine eigenen Interessen verfolgen. Man wird den Iran an den Verhandlungstisch holen müssen. Die Politik der Marginalisierung und Sanktionierung des Landes ist gescheitert. Irans Atomkraftprojekt ist unaufhaltbar und es gibt keine militärische Lösung. Das weiß jeder.

Und die Europäische Union ist für diesen Dialog ein besserer Partner als die USA, weil sie nicht von historischem Ballast niedergedrückt wird. Auch strategische Betrachtungen spielen hier eine Rolle. Wie werden wir zum Beispiel in Zukunft Erdöl und Erdgas aus Afghanistan befördern? Wäre es nicht besser, die Pipeline durch Indien, Pakistan und den Iran zu leiten als durch Russland? Ebenso war der Libyen-Einsatz ein Fehler. Europa ist mit der islamischen und der arabischen Welt eng verknüpft und muss sich das eingestehen.

Wenn der Einsatz in Libyen ein Fehler war, hätte Europa dann lieber nicht in Libyen eingreifen sollen? Sogar wenn das bedeutet hätte, zuzusehen wie Gaddafi die Opposition abschlachtete?

Wäre es möglich gewesen, gleich zu Beginn eine Konferenz mit den Akteuren der Region zu organisieren, bei der sich Gaddafi und die Opposition gemeinsam an einen Tisch gesetzt hätten – das wäre der richtige Weg gewesen. Hätte es ganz am Anfang eine diplomatische Initiative gegeben, dann, meine ich, hätte Gaddafi nicht so reagiert, wie er es letztendlich getan hat. Wenn man sieht, dass es eine andere Lösung gibt, dann hat man doch Bedenken, seine eigene Bevölkerung zu massakrieren. Der militärische Einsatz hat im Gegenteil die Gewalt in Libyen verschlimmert. Man kann Leute nicht unterjochen, indem man sie bombardiert, oder militärisch eingreifen, um eine neue Situation entstehen zu lassen. Wer glauben Sie verteidigt Gaddafis Regime? Er wird immer noch von manchen unterstützt. Es beschränkt sich nicht nur auf angeheuerte Söldner. Was wird mit den Überresten dieses Regimes passieren? Strategische Diplomatie könnte aus der Sackgasse herausführen.

Ist Libyen also für den Westen ein neuer Irak, nur näher an den Grenzen zu Europa?

Niemand weiß genau, was diese Bewegung in Ostlibyen ist. Es geht bei weitem nicht nur um Liberale und Demokraten. Es gibt eine Menge verschiedene Stämme, die ihre eigene Tagesordnung haben, und auch Dschihadisten. Al-Qaida freut sich über die Situation, weil die Ereignisse in seine Weltanschauung des Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen integriert werden können. Eine militärische Lösung wäre keine glückliche Lösung. (pl-m)

Profil

Arshin Adib-Moghaddam

Arshin Adib-Moghaddam wurde in einer iranischen Familie geboren, wuchs überwiegend in Deutschland auf und unterrichtet heute an der renommierten School of Oriental and African Studies an der London University. Er hat mehrere Bücher verfasst, das neueste davon ist [A Metahistory of the Clash of Civilizations](http://cup.columbia.edu/book/978-0-231-70212-6/a-metahistory-of-the-clash-of-civilisations), das die kulturellen Konflikte in der Geschichte Europas von der Zeit der Perserkriege über die Kreuzzüge bis zum heutigen Krieg gegen den Terrorismus behandelt.

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