Presseschau (Dis)Equality

Wetten, Casinos und Glücksspiele: eine „Steuer für die Armen”

Ob in der Spielhalle oder online: Glücksspiel ist ein lukratives Geschäft, das vor allem ärmeren Menschen das Geld aus der Tasche zieht. In manchen Ländern Europas werden damit nicht nur Lobbys, sondern auch die Medien finanziert.

Veröffentlicht am 14 November 2024

„Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ähnlich wie bei der Sucht nach Alkohol, Essen oder Drogen; das Verhalten ist anders, aber das innere Gefühl ist ähnlich. Wenn man nicht rechtzeitig aufhört, gibt es nur drei Möglichkeiten: Gefängnis, Verrücktwerden oder Sterben“, sagt Vasile, 34 Jahre aus Rumänien über seine Spielsucht, über die Lola García-Ajofrín in El Confidencial berichtet. Ein Artikel, der in Zusammenarbeit mit dem Pulse-Netzwerk entstanden ist. 

Rumänien [hat ein] Problem mit Wettspielen", titelte Politico bereits im Jahr 2016. Die erste Spielhalle wurde 1990 in Bukarest eröffnet, wenige Monate nach Ceaușescus Tod und dem Ende des Regimes, denn wie in den meisten Ländern des ehemaligen Sowjetblocks war das Glücksspiel verboten. 

Aktuell hat die rumänische Regierung einen Gesetzentwurf zum Verbot von Glücksspielwerbung vorbereitet, über den das Parlament jedoch noch nicht abgestimmt hat, berichtet Iulia Roșu in HotNews. Seit Mai letzten Jahres ist es in allen rumänischen Gemeinden mit unter 15.000 Einwohnern nicht mehr möglich, Spielhallen zu eröffnen. Außerdem hat die Regierung vergangenes Jahr die Steuern für Wettunternehmen erhöht und verbietet seitdem den Verkauf von Alkohol in Spielhallen. 

Das Nachbarland Bulgarien hat das gleiche Problem, erklärt Mediapool (ebenfalls in Zusammenarbeit mit Pulse): Seit Mai 2024 ist die Werbung für Glücksspiele auch dort in allen Medien verboten, mit Ausnahme der staatlichen Lotterie, welche die Einnahmen zur Finanzierung des Sports verwenden muss. In Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern sind Spielhallen auch in Bulgarien verboten. 

Die Branche florierte dort ab 2015 aufgrund der massiven Investitionen von Vassil Bojkov, der sein Geschäft in den 80er-Jahren illegal begonnen hatte und schnell zum größten Spielhallenbesitzer des Landes aufgestiegen war: „Innerhalb von 4-5 Jahren begannen Hunderttausende von Menschen Rubbellose zu kaufen und die privaten Lotterien erreichten einen Jahresumsatz von 700 Millionen Euro“, erinnert sich Roșu. 

Bojkovs Herrschaft brach jedoch 2020 zusammen, nachdem die bulgarischen Behörden 250 Millionen Euro an hinterzogenen Steuern von ihm zurückgefordert hatten, woraufhin er nach Dubai floh. Dort gründete er die Partei „Bulgarischer Sommer“ und kehrte 2023 in sein Land zurück, wo er wegen Korruption und Geschäften mit der russischen Söldnergruppe Wagner verhaftet wurde. Eine lange Geschichte, die Svetoslav Todorov auf der Medienplattform Balkaninsight erzählt

In der Zwischenzeit hat der bulgarische Staat seine Immobilien verstaatlicht, und die Zahl der Spielhallen steigt weiter an. Das neue bulgarische Werbeverbotsgesetz wird von der Öffentlichkeit begrüßt, stößt aber bei den großen Fernsehsendern und digitalen Medien auf Widerstand. Warum? Weil Wettwerbung zwischen 20 und 30 Prozent ihrer gesamten Werbeeinnahmen ausmacht. Laut Zahlen aus dem Jahr 2023, die von Mediapool zitiert werden, geben Glücksspielunternehmen 85 Millionen Euro für Werbung aus. Viele Medien argumentieren, dass dieses Gesetz den Journalismus selbst gefährden könnte, weil das Geld in ihrem Budget fest eingeplant ist. 

In Rumänien - um auf den HotNews-Artikel zurückzukommen - wurden in der zweiten Jahreshälfte 2023 Journalisten von Gazeta Sporturilor und Libertatea entlassen oder traten zurück, weil sie die Ringier Sports Media Group (der die beiden Titel gehören) beschuldigt hatten, sich in Untersuchungen zum Thema Wetten einzumischen. Ein Bericht des Internationalen Presseinstituts (IPI) analysiert diese Ereignisse. 

Nach Angaben des Europäischen Glücksspiel- und Wettverbands (Egba) hat das Glücksspiel in Europa (EU-27 plus Vereinigtes Königreich) im Jahr 2022 einen Bruttoumsatz von 108,5 Mrd. EUR erzielt (davon 38,2 Mrd. EUR aus Online-Wetten), was einem Anstieg von 8 % gegenüber 2019 (vor der Pandemie) und 23 % gegenüber 2021 entspricht. Dies liege daran, dass die Spielhallen nach der Pandemie wieder geöffnet wurden. 

Weiteren Egba-Daten zufolge, über die El Confidencial berichtet, leiden in Europa zwischen 0,3 und 6,4 Prozent der Bevölkerung an Pathologien, die mit Glücksspielsucht zusammenhängen. 

Eine Art „Vermögenssteuer der Armen

Glücksspiel ist auch ein Thema in Frankreich, wo die neue (sehr rechte) Regierung vor Kurzem vorgeschlagen hatte, Online-Casinos zu legalisieren, um einen Teil der Steuereinnahmen zurückzuerhalten. Frankreich ist neben Zypern das einzige EU-Land, in dem Blackjack und Roulette online nicht illegal sind. 

Der Gesetzentwurf ist derzeit jedoch aufgrund von Protesten von Kasinobetreibern und Suchtverbänden, für die Online-Spiele ein noch größeres Suchtpotenzial aufweisen, auf Eis gelegt. Nach Angaben der Nationalen Glücksspielbehörde (ANJ) haben im Jahr 2023 3 Millionen Franzosen illegal online gespielt. 

In Le Monde greifen Stéphane Troussel (Präsident des Departements Seine-Saint-Denis, in dem ich wohne) und Fatiha Keloua-Hachi (sozialistische Abgeordnete) mit einem Artikel in diese Debatte ein, den ich besonders interessant finde und der über Frankreich hinausgeht. „Ob Überschuldung, drohender Arbeitsplatzverlust, psychologische und physische Folgen wie Depressionen, Isolation oder Suizidgefahr… Manche sagen, dass dies nur eine Minderheit von Spielern mit exzessivem Spielverhalten betrifft. Doch gerade diese Spieler sind es, die das Wachstum der Branche fördern und die Taschen der Wettanbieter füllen.”

 „Nach Angaben von Santé publique France stammen 40 % der Wetteinnahmen von exzessiven Spielern. Schlimmer noch: Die Sportwettensucht ist so etwas wie eine „Vermögenssteuer der Armen“ geworden. Die ärmsten Spieler geben einen 2,5 Mal so hohen Anteil ihres Budgets für Glücksspiele aus wie andere Haushalte und haben zudem ein höheres Suchtrisiko.” Die Bruttospielerträge (d. h. die von den Betreibern eingestrichenen Einsätze) sind nämlich seit 2017 um mehr als 200 % gestiegen und werden bis 2023 1,4 Milliarden Euro erreichen, ohne dass ihre Besteuerung in Höhe von 10,6 % diesen scheinbar grenzenlosen Anstieg bremsen würde”, erklären Stéphane Troussel und Fatiha Keloua-Hachi

In Italien, so berichtet Il Fatto Quotidiano, erlaubt ein neues Haushaltsgesetz die Ziehung der Lottozahlen sogar an Freitagen, was bisher undenkbar war. Damit soll nach Angaben des Gesetzgebers der nationale Notstandsfonds mitfinanziert werden. 

Für die italienische Wochenzeitschrift Vita hat Ilaria Dioguardi den Soziologen Maurizio Fiasco interviewt. Er ist Präsident der Vereinigung für Studien über Glücksspiel und Risikoverhalten. Er erklärt, dass das neue Gesetz vorsehe, diese Vereinigung abzuschaffen zugunsten einer allgemeineren Beobachtungsstelle für Suchtpathologien. „Die Bruttoglücksspielgewinne werden in Italien in diesem Jahr die 150-Milliarden-Euro-Grenze durchbrechen. Es handelt sich bei der Spielsucht also um ein besonderes Phänomen, das nun im Kompendium der anderen Süchte untergehen wird“. 
Um die Wettmafia zu bekämpfen, haben Akteure der Zivilgesellschaft, Gewerkschaften und katholische Verbände die Kampagne „Mettiamoci in gioco“ („Engagieren wir uns”) ins Leben gerufen. Sie werfen der Regierung vor, sich den Interessen der Glücksspiellobby zu unterwerfen, „ohne sich um die Rechte und Bedürfnisse der Bürger oder gar um die Interessen des Staates zu kümmern“. Laut einer nationalen Studie über Spielsucht weisen 800.000 Italiener ein mäßiges oder schweres Risikoprofil für Spielsucht auf, insbesondere in den unteren Gesellschaftsschichten.

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