Analyse Tax the rich

Warum zahlen reiche Menschen weniger Steuern?

In Europa zahlen sehr reiche Menschen verhältnismäßig weniger Steuern als andere Steuerpflichtige. Eine europäische Vermögenssteuer könnte diese steuerliche Ungerechtigkeit geraderücken.

Veröffentlicht am 15 April 2024 um 14:34


Die Europaabgeordnete Aurore Lalucq und der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Belgiens Paul Magnette haben ein politisches Projekt ins Leben gerufen: Sie wollen eine europäische Steuer auf sehr große Vermögen einführen und diese Mittel einsetzen, um den Klimawandel und die soziale Ungleichheit zu bekämpfen.

Ist das eine Utopie? Ihre Idee bildet die Grundlage einer Europäischen Bürgerinitiative, die im Juli 2023 von der Europäischen Kommission validiert wurde. Die beiden Politikschaffenden haben danach ein Jahr Zeit, um eine Million Unterschriften in mindestens sieben Ländern der EU für ihre Sache zu sammeln. Da sie ihre Initiative offiziell am 9. Oktober 2023 gestartet haben, muss die Million Unterschriften also bis zum 9. Oktober 2024 vorliegen.

Was spricht dafür? Mit jeder neu veröffentlichten Studie zeigt sich: Extrem reiche Menschen zahlen in Europa weniger Steuern als die übrige Bevölkerung. In einer Zeit, in der das für einen ökologischen Wandel erforderliche Kapital fehlt, muss diese offenkundige Ungerechtigkeit korrigiert werden.

Augenfällige Ungleichheit in Europa

Genaue Informationen über die Höhe, die Verteilung und die Dynamik der Vermögen in den verschiedenen europäischen Ländern zu beschaffen, ist nicht leicht, ein Vergleich ist noch schwieriger. Um die Verteilung der Vermögen auf die verschiedenen Haushalte entsprechend ihres Einkommens zu betrachten, benötigt man Daten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, Haushaltsumfragen und vieles mehr. Glücklicherweise hat die Europäische Zentralbank im Januar 2024 genau das in Angriff genommen: Ihre Geldpolitik hat je nach Ausmaß der Ungleichheit unterschiedliche Auswirkungen, daher interessiert sie sich für dieses Thema.

Aus diesen Statistiken der EZB, die aktuell noch im Experimentierstadium stecken, lassen sich mehrere wichtige Erkenntnisse ableiten: Die Daten für den Zeitraum 2009-2023 zeigen, dass die unteren 50 % der EU-Bürger:innen in diesem Zeitraum durchschnittlich nur 4,8 % des Nettovermögens in der EU besaßen. Die oberen 5 % besaßen hingegen durchschnittlich 43,1 % des Gesamtvermögens. Ein eklatanter Unterschied.

Wie so oft verwischt der Durchschnittswert die unterschiedlichen Positionen. Im Euroraum sind sie sogar sehr unterschiedlich. So entfallen in den Niederlanden 31,7 % des Nettovermögens auf die reichsten 5 % der Bevölkerung, in Österreich sind es 53,5 %. Frankreich liegt im beobachteten Zeitraum mit 39,8 % unter dem EU-Durchschnitt, Deutschland und Italien gehören zu den Ländern mit der größten Ungleichheit. Die Europäische Union als Institution besteht zwar schon seit vielen Jahrzehnten, aber ihre Volkswirtschaften und Gesellschaften entwickeln sich nach wie vor sehr unterschiedlich.

Verfolgt man die Dynamik der Ungleichheit in der gesamten EU über den beobachteten Zeitraum, dann fällt auf, dass die Wohlhabenden offenbar stark von Krisenzeiten profitieren. 2009, mitten in der globalen Finanzkrise, besaßen die reichsten 5 % der Bevölkerung 41,5 % des Vermögens in der EU. Anfang der 2010er Jahre wurde Europa von der Krise erfasst, und während die Bevölkerung mit der allgemeinen Sparpolitik zu kämpfen hatte, stieg der Anteil der Wohlhabenden am Gesamtvermögen bis Anfang 2015 auf 44,4 %. Die Lockerung der Haushaltspolitik vonseiten der EZB (Mario Draghis berühmtes „Koste es, was es wolle“) ging mit einem Rückgang des Wohlstandsanteils der oberen 5 % einher. Mit der Pandemie stieg dieser Anteil dann in den Jahren 2020 und 2021 wieder an.

Dass in Krisenzeiten die unteren Bevölkerungsschichten, die nur von ihrem Arbeitseinkommen leben, mehr leiden als die oberen, die Aktien-, Kapital- und Immobilieneinkommen erzielen, ist nichts Neues. In Europa war das in den letzten fünfzehn Jahren besonders auffällig.

Die großen Vermögensunterschiede wären nicht allzu problematisch, wenn die reichsten EU-Bürger:innen ihren gerechten Steueranteil bezahlen würden. Das ist jedoch immer weniger der Fall. Ganz allgemein ist die Dynamik seit vielen Jahren eindeutig: Fast alle Länder haben die Vermögenssteuern abgeschafft. Noch vor dreißig Jahren wurden in gut zehn europäischen Ländern, von Deutschland über Spanien, Dänemark und Schweden bis hin zu Frankreich, die Vermögen der reichsten Bevölkerungsschichten gezielt besteuert.

Diese Steuern waren nicht perfekt, die Bemessungsgrundlagen waren durch zahlreiche Ausnahmen (Wohnort, Geschäftsvermögen usw.) eher klein, was den Ertrag schmälerte, aber ihr großer Vorteil bestand darin, dass es sie überhaupt gab. Im Zuge des Wirtschaftsliberalismus wurden sie abgeschafft.

Wie aus dem letzten Bericht der Europäischen Kommission über Steuertrends hervorgeht, wurden auch die Grenzsteuersätze für die höchsten Einkommen gesenkt. Gleiches gilt für die Ertragsteuersätze, die erste Stufe der Besteuerung der reichsten Bevölkerungsschichten: Unversteuerte Gewinne bilden die Grundlage für die Ausschüttung von Dividenden, die sich bei den sehr Wohlhabenden konzentrieren.

Die Studien häufen sich

Die Abschaffung der Vermögensteuer ist keine allumfassende Erklärung für die Konzentration des Reichtums bei den besonders Wohlhabenden, aber es besteht eine Korrelation. Hinzu kommt, dass die Menschen, die die größten Vermögen besitzen, auch besonders oft aggressive Steueroptimierungsstrategien und Steueroasen nutzen.


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Was folgt aus diesen Erkenntnissen? Wie viel Steuern zahlen die Reichen tatsächlich? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Tatsächlich war eine Antwort darauf bis vor ein paar Jahren sogar unmöglich. Aber es werden immer mehr Studien erstellt und kommen, soweit sie bereits vorliegen, zu demselben Ergebnis: Extrem reiche Menschen werden in Europa niedriger besteuert als die übrigen Steuern zahlenden Personen im jeweiligen Land.

Um den Steuersatz der wohlhabenden Bevölkerung beurteilen zu können, muss man deren Einkommen und Vermögen genau kennen. Ein Teil der Einkommen sehr wohlhabender Personen stammt zum Beispiel aus Dividenden auf Unternehmensanteile. Diese Aktien und Beteiligungen können aber über Briefkastenfirmen oder Holdings gehalten werden, die ihrerseits keine Dividenden ausschütten: Kapitaleinkommen, die zwar das Vermögen der Reichsten steigern, aber nicht besteuert werden.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, Einkommen, Vermögen und Steuersätze der wohlhabendsten Bevölkerungsschichten richtig einzuschätzen. Wirtschaftswissenschaftler haben zur Erfassung des Problems anonymisierte Daten zur Einkommensbesteuerung, aus Umfragen, der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung usw. zusammengefasst. Eine Mammutaufgabe, die noch selten, aber inzwischen immer häufiger durchgeführt wird.

So zeigt eine 2023 veröffentlichte Studie des „Institut des Politiques Publiques“, dass der Einkommensteuersatz in Frankreich von 46 % für die reichsten 0,1 % der Bevölkerung schrittweise auf 26 % für die reichsten 0,0002 % sinkt. Die 75 Haushalte am oberen Ende der Verteilung, für die der Reichtum in Milliarden gemessen wird, zahlen also prozentual deutlich weniger Steuern. Warum? Weil das Vermögen dieser ultra-reichen Personen zu einem großen Teil aus nicht ausgeschütteten Dividenden besteht, die der Körperschaftsteuer unterliegen. Die ist aber seit Jahren rückläufig, wie der Vergleich zum Jahr 2016 zeigt, als die Körperschaftsteuer noch höher war als heute.

In Italien kommt man zum gleichen Ergebnis: Eine Anfang 2024 veröffentlichte Analyse zeigt zwar ein leicht progressives Steuersystem, das sich aber ab den reichsten 5 % der Bevölkerung umkehrt: ihr Steuersatz liegt bei 36 %, der für die unteren Einkommen aber bei 40-50 %. Die Forschenden, die die Studie publiziert haben, erweitern ihre Analyse auf die Besteuerung des Nettovermögens und bestätigen das Ergebnis: Je größer das Vermögen, desto geringer die Besteuerung. Die ärmsten 25 % der Bevölkerung haben einen durchschnittlichen Steuersatz von 52 %, die reichsten 0,1 % der Bevölkerung bezahlen 36 %. 

Eine ähnliche Arbeit, die ebenfalls makro- und mikroökonomische Daten zusammenfasst, kommt in den Niederlanden zum gleichen Ergebnis: Der durchschnittliche Steuersatz für 99 % der Bevölkerung liegt zwischen 40 % und 50 %, beginnt bei den reichsten 1 % zu sinken und endet schließlich bei 21 % für die reichsten 0,01 % der Bevölkerung. In Großbritannien ist es nicht anders.

Diese steuerliche Ungleichheit muss korrigiert werden.

Es bleibt zu hoffen, dass sich noch weitere Forschende in anderen europäischen Ländern mit diesem Thema befassen, aber die vorliegenden Erkenntnisse laufen auf das gleiche Ergebnis hinaus. Momentan zahlen sehr reiche Menschen in Europa verhältnismäßig weniger Steuern als andere Steuerpflichtige. Das liegt vor allem an der geringeren Besteuerung von Einkommen aus Kapital im Vergleich zu Einkommen aus Arbeit. Eine vor Kurzem veröffentlichte Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt einen großen Unterschied in der Besteuerung der beiden Einkommensarten. In den OECD-Ländern beträgt er im Durchschnitt 12 Prozentpunkte (9,5 Prozentpunkte in Frankreich) zugunsten des Einkommens aus Kapital.

Daher würde die Einführung einer europäischen Vermögenssteuer für die reichsten 1 % oder 0,1 % der Bevölkerung eine steuerliche Ungerechtigkeit in Form der Besserstellung extrem wohlhabender Menschen korrigieren, da deren Einkommen hauptsächlich aus Finanzerträgen stammt, die weniger hoch besteuert werden als Arbeitseinkommen. Es ist an der Zeit, das zu ändern. Tax the rich!

  👉 Originalartikel auf Alternatives Economiques
In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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