Ideen Frankreich und die EU

Wird Emmanuel Macron die EU dazu bringen, sich zu bewegen?

Wenn er die EU reformieren will, muss der neue französische Präsident Berlin überzeugen, die dauerhafte Sparpolitik zu ändern und die deflationäre Arbeitsmarktpolitik zu beenden. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich, meint der Chefredakteur der Zeitschrift „Alternatives Économiques“.

Veröffentlicht am 31 Mai 2017 um 07:42

Kann Emmanuel Macron eine Reform der Europäischen Union und der Eurozone gelingen? Die europäische Frage stand im Zentrum der Kampagne für die Präsidentschaftswahlen. Die Aussicht auf einen „Frexit“, den Marine Le Pen ins Feld geführt hatte, kam sie in der zweiten Runde teuer zu stehen, denn trotz der jüngsten Schwierigkeiten hängt die überwiegende Mehrheit der Franzosen nach wie vor am europäischen Projekt und am Euro. Aber der Status quo ist nicht haltbar. Der Erfolg von Emmanuel Macron wird entscheidend davon abhängen, ob er es schafft, die Wirtschafts- und Sozialpolitik Europas zu verändern. Tatsächlich können eine Erholung der französischen Wirtschaft und ein Rückgang der Arbeitslosigkeit angesichts des großen Außenhandelsdefizits kaum von einer Belebung der Binnennachfrage kommen: vor allem die Nachfrage in der übrigen Eurozone kann die wirtschaftliche Erholung Frankreichs ankurbeln.
Kann Emmanuel Macron also gelingen, woran François Hollande gescheitert ist – allerdings ohne es wenigstens richtig versucht zu haben? Hierfür müsste die anhaltende Sparpolitik verändert und vor allem die deflationäre Arbeitsmarktpolitik beendet werden, die die Wirtschaft in der Eurozone der sehr expansiven Geldpolitik der Europäischen Zentralbank zum Trotz daran hindern, sich zu erholen. Mission Impossible? Würde Emmanuel Macron dies infrage stellen – was er bis jetzt nicht tut – wäre der Erfolg nicht ganz so unwahrscheinlich, wie viele Franzosen heute denken.
Dies hängt natürlich in erster Linie von der Haltung Deutschlands ab – seiner Regierung und auch der öffentlichen Meinung. Aus diesem Grund besuchte Emmanuel Macron nach seinem Amtsantritt als erstes Berlin. Die vernichtende Niederlage von Marine Le Pen in zweiten Wahlgang war für unsere Nachbarn eine schöne Überraschung, die zwar nicht zwangsläufig ihren Wahlsieg, aber doch zumindest ein knappes Ergebnis erwartet hatten.
Dieser deutliche Sieg beruhigt die Franzosen und auch den Rest der Welt: Frankreich ist noch nicht so weit, alles aufzugeben, was seit der Aufklärung seine Geschichte ausgemacht hat. Aber das Land neigt auch dazu, Emmanuel Macrons Position sofort zu schwächen. Nach einer Wahl mit 55:45 % der Stimmen hätte die Angst vor dem Front National die deutsche Regierung vermutlich dazu getrieben, grundlegende Änderungen in Europa leichter zu akzeptieren. Eine Wahl mit 66:34 % relativiert in den Augen unserer Nachbarn zweifellos die Dringlichkeit einer solchen Reform.
Dies zeigen die vorsorglichen Grenzen, die die deutsche Presse bereits gegen mögliche Ansprüche von Emmanuel Macron zieht. Die große Wochenzeitschrift Der Spiegel schrieb am 12. Mai auf der Titelseite „Teurer Freund”, mit einem Untertitel: „Emmanuel Macron rettet Europa ... und Deutschland soll zahlen“ Die Kanzlerin ihrerseits ließ sofort wissen, dass sie nichts tun könne, um den hohen Außenhandelsüberschuss Deutschlands zu verringern, der aus ihrer Sicht von Faktoren abhänge, die sie nicht kontrollieren könne: die hervorragende Leistung der deutschen Unternehmen und die zu lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.
Trotz dieser Reaktionen stehen die Chancen auf den Erfolg einer Reform Europas besser, als in Frankreich allgemein angenommen wird. Dies hängt allerdings davon ab, ob Emmanuel Macron in dieser Richtung ausreichend aktiv wird. Aufgrund seiner demografischen und wirtschaftlichen Bedeutung und seiner geografischen Lage im Zentrum des erweiterten Europas spielt Deutschland in der Union zweifellos eine dominante Rolle. Aber das Kräfteverhältnis ist nicht so unausgewogen, wie man – vor allem in Frankreich – denkt. In jedem Fall ist es heute ausgeglichener, als es noch 2010 den Anschein hatte.
Zunächst deshalb, weil die wichtigsten Probleme, denen sich Europa in den letzten Jahren stellen musste, geopolitischer Natur sind. Beispiele sind die Situation in der Ukraine, die islamistische Bedrohung in den Maghrebstaaten und der Sahelzone oder die Folgen des Chaos in Syrien und im Irak. Auf diesem Feld bleibt Deutschland ein Zwerg, während Frankreich international noch ein gewisses Gewicht hat.

Folgen des Brexit

Darüber hinaus hat der Brexit die Position der deutschen Konservativen stark geschwächt. Sie hatten sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, sich auf ihre britischen Kollegen zu stützen und Fortschritte hinsichtlich der sozialen und steuerlichen Harmonisierung in der EU zu blockieren. Die großen Länder haben nun keine andere Wahl, als sich mit der Regierung in Frankreich zu verständigen. Dies gilt umso mehr, als die euroskeptische Einstellung, die die meisten Mittel- und Osteuropäischen Länder eingenommen haben, Deutschland weitgehend seine Rolle als Schwerpunkt Europas entzieht und es zwingt, sich stärker nach Westen zu orientieren, wenn es ein Auseinanderdriften der EU vermeiden will.
Kurz: Emmanuel Macron verfügt zunächst über eine nicht zu vernachlässigende Machtposition gegenüber der deutschen Regierung, wenn er beschließen sollte, eine Reformagenda für die Eurozone zu unterstützen, die die Wirtschaftsaktivitäten und mehr Solidarität fördert. Da die öffentliche Meinung in diesen Fragen sehr sensibel reagiert, können unsere Nachbarn diese Themen jedoch erst nach den Bundestagswahlen am 21. September vorantreiben. Dieses Gelegenheit wird sich also erst im Herbst ergeben.
Paradoxerweise ist die französische Innenpolitik das Thema, das Emmanuel Macron im unvermeidlichen Kampf um die Rettung Europas und des Euro am stärksten schwächen kann. Tatsächlich erwägt er, um die Deutschen von einer Veränderung Europas zu überzeugen, zunächst und vor allem das zu tun, was sie von uns verlangen: „Reformen“ wie sie Gerhard Schröder seinerzeit umgesetzt hat, wie eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts, ein Absenken der Sozialleistungen und eine Verringerung der Arbeitskosten. Genau das hat François Hollande in Frankreich fünf Jahre lang getan, mit ganzen vier großen Arbeitsmarktreformen und einem Verantwortungspakt. Genau deshalb ist er wirtschaftlich, sozial und politisch gescheitert.
Wenn Emmanuel Macron diese Strategie fortsetzt, ja sogar beschleunigt, riskiert er vor allem drei Dinge: die zarte wirtschaftliche Erholung wieder zu stoppen, die sich gerade entwickelt hat; die zwei Drittel der Franzosen, die ihn am 7. Mai gewählt haben, gegeneinander aufzubringen und die sozialen und politischen Spannungen wiederzubeleben. Dies würde seine Verhandlungsposition gegenüber der deutschen Regierung, aber auch gegenüber der öffentlichen Meinung in Deutschland, umgehend schwächen.

Aus dem Französischen von Heike Kurtz, DVÜD

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