Eine immer souveränere Union


Die europäische Integration hat sich während der Krise beschleunigt und geht mit einem Projekt zur wirtschaftspolitischen Steuerung einher. Dies ist ein erster Schritt in Richtung einer neuen, positiven Überlassung von immer mehr Souveränität an die EU, stellt Andrzej Talaga, Redakteur bei Dziennik Gazeta Prawna, fest.

Veröffentlicht am 27 Juni 2011 um 16:19

EZB-Präsident Jean-Claude Trichet erklärte am 2. Juni dieses Jahres anlässlich eines Besuchs in Aachen, dass die EU eigentlich nur einen einzigen Finanzminister haben sollte. Darüber hinaus hielt er es für wünschenswert, die EU zu einem Staatenbund einer ganz neuen Art zu machen, mit einer gemeinsamen Haushaltspolitik. Eine derartige Vision ist ein schwerer Schlag für die Souveränität der Mitgliedsstaaten.

Ein „übergeordnetes“ Finanzministerium würde die Haushaltspolitik und die Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsstaaten kontrollieren und hätte bei bestimmten Entscheidungen über öffentliche Ausgaben Vetorecht. Der gesamte Finanzsektor der Europäischen Union würde den EU-Verordnungen unterliegen. Das bedeutet, dass – zumindest für die Länder der Eurozone – eine Kontrolle der Staatshaushalte eingeführt würde. Würden wir den Vorschlag von Jean-Claude Trichet befolgen, wären diese Staaten nur noch zur Hälfte unabhängig. Mitunter würde man im Zusammenhang mit ihnen nur noch von territorialer Unabhängigkeit sprechen. Für ein derartiges System gibt es im Übrigen in keinem politischen Lexikon eine Definition.

Die Währungsunion – ein unsinniges Geschöpf

Dabei sind diese Vorschläge so innovativ nicht. In der Griechenlandkrise möchte man beispielsweise die strenge Kontrolle der Finanzen des Landes durch die überstaatliche Troika – denn sie besteht aus Experten der EU-Kommission, der EZB und des IWF – zur Voraussetzung für eine neue Hilfe für Athen machen. So etwas hat es in der EU bisher noch nicht gegeben. Irland und Portugal mussten zwar die Änderung bestimmter Posten ihrer öffentlichen Ausgaben akzeptieren, ohne jedoch durch Dritte kontrolliert zu werden. Griechenland ist dagegen auf dem besten Weg, die Souveränität zu verlieren, und sowohl aufgrund der eigenen Fehler als auch auf Druck von außen seine Haushaltspolitik in die Hände Dritter zu legen, wie dies bereits für die Geldpolitik der Fall war, als das Land der Eurozone beitrat.

Jean-Claude Trichet, dessen Amtszeit an der Spitze der EZB bald endet, kann seiner Fantasie freien Lauf lassen. Dabei ist seine Analyse durchaus nicht übertrieben und das Ergebnis von angesichts der Realität logischen Überlegungen: die Eurozone ist durch die Disparität der Staatshaushalte ihrer Mitglieder in eine Falle geraten. Die haushaltspolitische Disziplin bestimmter Länder, deren Bürger ehrliche Steuerzahler sind, steht im Kontrast zu anderen Vorgehensweisen, die sich durch die Verschwendung öffentlicher Mittel und durch Bürger auszeichnen, die Steuern hassen und nicht davor zurückschrecken, die eigene Regierung zu betrügen, indem sie beispielsweise Sozialhilfe kassieren, die ihnen überhaupt nicht zusteht.

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„So ein Tier kann es nicht geben“, sagte einst ein Zoologe, als er eine Giraffe sah. Aus biologischer Sicht handelt es sich in der Tat um ein völlig unsinniges Geschöpf. Dasselbe gilt für die Europäische Währungsunion. In ihrer derzeitigen Form dürfte eine solche Struktur nicht funktionieren. Sie bleibt jedoch trotz allem bestehen. Nur handelt es sich bei der Giraffe um einen Irrtum der Natur, während die Währungsunion von Menschen geschaffen wurde und das Ergebnis einer Reihe europäischer Kompromisse ist. Um sich weiterzuentwickeln oder auch nur zu überleben, muss sie eine Metamorphose durchmachen, und am logischsten ist die von Jean-Claude Trichet vorgegebene Entwicklungsrichtung.

Mentale und organisatorische Kehrtwende

Sollte diese Orientierung, die ebenfalls vom Präsidenten der Euro-Gruppe, dem Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker, und vom Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, vertreten wird, gewählt werden, würde das nicht unbedingt bedeuten, dass die EU-Mitgliedsstaaten ihre Souveränität zugunsten einer Drittstruktur verlieren. Die Souveränität würde an ein übergeordnetes Organ übertragen, das die Mitglieder selbst wählen würden. Im Grunde bedeutet das, dass die Europäische Union selbst nach und nach souverän würde.

Ein für die gesamte Eurozone gemeinsamer Finanzminister und eine gemeinsame Haushaltspolitik wären mental und organisatorisch gesehen eine Kehrtwende. Nach einem solchen Schritt würden die europäischen Völker problemloser die Einrichtung eines europäischen Energieministeriums und später eines gemeinsamen Wirtschafts- und eines Verteidigungsministeriums sowie letztendlich eine überstaatliche Regierung akzeptieren. Die Stärkung der Strukturen der EU zeichnet sich immer deutlicher ab, auch wenn in den Gesellschaften der einzelnen Mitgliedsstaaten kein Konsens herrscht und verschiedene Parteien, die in bestimmten Ländern wie z.B. in den Niederlanden und in Finnland an der Regierung beteiligt sind, eine Lockerung dieser Strukturen anstreben.

Dabei handelt es sich allerdings nur um einen vorübergehenden politischen Trend, hervorgerufen durch die Krise. Auf lange Sicht wäre die Stärkung der Union für die europäischen Staaten vorteilhaft. Bestimmte Banken und Politiker sind sich dessen bereits bewusst, und nach und nach gelangen ganze Gesellschaften zu dieser Überzeugung. Die Europäer können rechnen und wissen, dass sie angesichts der Konkurrenz der Schwellenländer nicht in der Lage sind, ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten, ohne zu einer wirtschaftlich und politisch kohärenten Einheit zusammenzuwachsen.

Wirtschaftlich einflussreich, mit einer zentralen militärischen Kommandogewalt und einer einheitlichen Wirtschafts-, Fiskal- und Außenpolitik wäre die EU im wahrsten Sinne des Wortes eine Supermacht. Von einer solchen Supermacht wagt nicht einmal Jean-Claude Trichet zu träumen, und wahrscheinlich wird es sie ohnehin nie geben, da ihr zu viele interne Widersprüche im Wege stehen. Die Übertragung der Souveränität von Nationalstaaten an gemeinsame Institutionen scheint dagegen unvermeidlich und sogar notwendig zu sein, um mit Staaten rivalisieren zu können, die eine harte Version der Souveränität wählen. In ihrer heutigen Form ist die Union zu schwach, nicht nur, weil sie nicht mit den notwendigen Instrumente ausgestattet ist, um die Interessen Europas in der Welt wirksam zu verteidigen, sondern vor allem, weil sie nicht über die Legitimität hierzu verfügt. Früher oder später sollten wir ihr diese zuerkennen.

Nicht zum ersten Mal werden Stimmen laut, um die Europäische Union in eine politisch und wirtschaftlich homogene Einheit umzuwandeln. Wie dem auch sei: Die Krise der Eurozone hat gezeigt, dass das Überleben für die Union in ihrer heutigen Form schwierig sein wird. (ae)

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