Ramiro Zardoya voxeurop

10 Jahre nach der Migrationskrise von 2015: zwischen alten Mythen und neuen Realitäten

Ein Jahrzehnt ist seit Beginn der Migrationskrise von 2015 vergangen. Mit der Zeit haben sich die damals beschlossenen Sofortmaßnahmen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme verfestigt. Gleichzeitig haben rechtsextreme Parteien mit ihrer Anti-Einwanderungsrhetorik an Popularität gewonnen.

Veröffentlicht am 2 Oktober 2025

Vor zehn Jahren begann der sogenannte „Sommer der Migration”, eine Reihe umfangreicher Migrationsbewegungen in Richtung Europäische Union. Eine Flüchtlingskrise, in der allein im Jahr 2015 mehr als eine Million Menschen illegal nach Europa einwanderten, hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

2025 sind mehr als 95.000 Menschen ins Exil gegangen und dabei irregulär in die EU eingereist.

Seit 2014 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mehr als 32.000 Menschen bei dem Versuch ums Leben gekommen, über das Mittelmeer die europäischen Grenzen zu erreichen.

Die Jahre sind vergangen, und der „Sommer der Migration” hat sich zu einer neuen Realität entwickelt. Die Krise von 2015 war nur eine Episode in dieser langen Geschichte. Die Spannungen an der Grenze zwischen Polen und Belarus im Jahr 2021 (sowie an den Grenzen zu Russland, Finnland oder im Baltikum), die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan und natürlich der Krieg in der Ukraine sind nur einige Ereignisse, die eines deutlich machen: In einer Welt, die von politischer Instabilität, wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit geprägt und von der globalen Erwärmung bedroht ist, sind Migrationsbewegungen unvermeidlich – und werden es auch in Zukunft bleiben, auch wenn dies von vielen immer noch geleugnet wird. 

Aus dem Jahr 2015 ist vor allem die historische Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem Satz „Wir schaffen das!” in Erinnerung geblieben. Sie bekundete damit den Willen Deutschlands, sich der beispiellosen Herausforderung durch die Ankunft von Migrierenden auf deutschem Boden zu stellen. Auch ist die Erschütterung über das Foto von Aylan Kurdi im Gedächtnis geblieben, einem zweijährigen syrischen Jungen kurdischer Herkunft, der tot an einem türkischen Strand gefunden wurde. Der Schock löste damals eine Welle der Solidarität für die Flüchtlinge aus.

Weniger in Erinnerung geblieben sind hingegen die Missstände und die Grenzen bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die diese Krise offenbart und für die kommenden Jahre zementiert hat: die Patrouillen an der Grenze zwischen Nordmazedonien und Griechenland, die geplante Schließung der deutschen Grenzen, die Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten über die Aufnahme von Asylbewerber*innen, das umstrittene Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei...

Hinzu kommen die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen und Menschenrechtsverletzungen: Angesichts einer beispiellosen Krise war die europäische Solidarität nur von kurzer Dauer. Angela Merkel konnte die Krise damals scheinbar bewältigen, weil sie über das notwendige politische Kapital verfügte, um eine solche Entscheidung zu treffen – alle anderen Mitgliedstaaten konnten dies nicht.

Zehn Jahre später, eine neue Situation

In der Zwischenzeit haben sich die europäischen und nationalen Aufnahmesysteme an die neue Realität angepasst. Eine der wichtigsten Maßnahmen von Italiens Ex-Innenminister Matteo Salvini (2018 bis 2019), war die Abschaffung des humanitären Schutzstatus, der es Migrierenden, die keinen Flüchtlingsstatus beantragen konnten, ermöglichte, in Italien zu bleiben – ein System, das etwa 40 % der Asylbewerber*innen schützte.

Durch seine Abschaffung verloren viele Menschen die Möglichkeit, sich legal im Land aufzuhalten, was zu einer Zunahme der Abschiebungen führte. Salvini führte darüber hinaus beschleunigte Asylverfahren ein, erweiterte die Befugnisse der Polizei und verschärfte die Vorschriften für die Inhaftierung von Migranten und Migrantinnen.

Die Verschärfung der italienischen Aufnahmepolitik spiegelt einen globalen Trend wider. Die Abkommen zwischen der EU und Ländern wie Mauretanien, Tunesien, Ägypten oder Libyen zur Steuerung der Migrationsströme und zur Bekämpfung der irregulären Einwanderung – von denen einige wegen Menschenrechtsverletzungen in diesen Ländern kritisiert werden – zeugen von dem Willen, die Ankunft von Migrierenden in Europa zu verhindern - unabhängig von den Folgen. Supranationale Projekte wie die Einrichtung von Rückführungszentren außerhalb der EU oder nationale Initiativen wie die vorübergehende Aussetzung des Asylrechts in Polen bestätigen diesen Willen zur Abschottung.

„Heute ist die Haltung der europäischen Staats- und Regierungschefs zum Thema Migration weit entfernt von den offenen Äußerungen Angela Merkels aus dem Jahr 2015”, konstatiert Silvia Carta, Beauftrage von Advocacy, einer Organisation, die sich für die Rechte von Menschen ohne Papiere einsetzt. „Die derzeit vorherrschende Erzählung stellt Migration und Migrierende als Problem dar, das in erster Linie durch mehr Hindernisse für die Einreise nach Europa und mehr Abschiebungen gelöst werden muss.” Dasselbe gelte für den Menschenschmuggel, der ihrer Meinung nach nicht als Folge der restriktiven Politik verstanden werde. Im Gegenteil, das Phänomen werde genutzt, um die zunehmende Kriminalisierung von Migrant*innen und Organisationen, die ihnen helfen, zu rechtfertigen.


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Für die Advocacy-Beauftragte führt ein solches politisches Klima dazu, dass immer mehr Menschen „in die Illegalität und in eine rechtliche Grauzone geraten. Sie werden ihrer Grundrechte beraubt und sind prekären Verhältnissen, Obdachlosigkeit, Ausbeutung oder langwieriger Haft ausgesetzt.”

Die europäische Solidarität ist jedoch nicht vollständig begraben. 2022 führte die Invasion der Ukraine durch Russland zu massiven Bevölkerungsbewegungen und veranlasste die EU, die Richtlinie über den vorübergehenden Schutz zu aktivieren, die den ins Exil getriebenen Ukrainern und Ukrainerinnen einen sofortigen legalen Aufenthalt und Zugang zu Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung gewährte.

Eine internationale Anti-Einwanderungsbewegung?

Die letzten zehn Jahre waren auch geprägt vom Aufstieg rechtsextremer Parteien in Europa, die unter anderem mit einer Anti-Einwanderungsrhetorik punkten konnten.

In Deutschland hat die Alternative für Deutschland innerhalb von zehn Jahren so stark an Popularität gewonnen, dass sie mittlerweile die zweitstärkste Kraft im Land ist (4,7 % der Stimmen bei den Bundestagswahlen von 2013 gegenüber 20,8 % im Jahr 2025).

Ähnlich sieht es in Frankreich aus, wo der Rassemblement National (RN), der vor zwanzig Jahren keinen einzigen Sitz in der Nationalversammlung hatte, bei den letzten Parlamentswahlen 28,5 % der Stimmen erhielt und damit zur stärksten Partei des Landes wurde. Noch auffälliger ist das Beispiel von Giorgia Melonis Partei Fratelli d'Italia, die heute an der Regierung ist, obwohl sie bei den Parlamentswahlen von 2013 nur 9 von 630 Sitzen (2 % der Stimmen) errungen hatte.

Der Aufstieg des Rechtsextremismus hat zur Folge, dass fast das gesamte politische Spektrum seine Haltung zum Thema Migration verschärft hat. Angetrieben von der Notwendigkeit, Wähler*innen zu gewinnen, die von reaktionären Argumenten überzeugt sind, nehmen Parteien der Mitte und der Linken immer restriktivere Positionen zu Migration und Asyl ein. Dies gilt für Die Linke von Sahra Wagenknecht, für Keir Starmer Labour Party im Vereinigten Königreich bis hin zu den Einwanderungsgesetzen der dänischen Sozialdemokratischen Partei: überall versuchen linke Politiker und Politikerinnen, aus dem Kampf gegen die Einwanderung Kapital zu schlagen – mit mehr oder weniger Erfolg.

„Auf EU-Ebene haben wir diese Verschiebung bereits 2024 beobachtet, als der Asyl- und Migrationspakt trotz der Proteste der Zivilgesellschaft mit den Stimmen der europäischen Sozialisten verabschiedet wurde”, erinnert sich Silvia Carta. „Die Daten zeigen jedoch, dass diese Diskurse die extreme Rechte nur stärken, anstatt sie zu schwächen.”

Laut Carta offenbart die Situation ein politisches Vakuum. „Was fehlt, sind Führungspersönlichkeiten [...], die verhindern, dass Migration und Migrierende als Sündenböcke benutzt werden, um die Wählerschaft zu spalten und sie von den wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften abzulenken.”

Integration nach wie vor schwierig

Für Menschen mit Migrationshintergrund bleibt die Integration schwierig. Eine 2023 veröffentlichte Eurobarometer-Umfrage unter mehr als 25.000 Befragten in der gesamten EU zeigt, dass mehr als die Hälfte der Meinung ist, dass in ihrem Land eine weit verbreitete Diskriminierung besteht, insbesondere aufgrund der Hautfarbe oder der ethnischen Herkunft.

Zwar verbessert sich die Integration in den Arbeitsmarkt in manchen Ländern, doch wird sie durch Sprachbarrieren, Wohnkosten oder den eingeschränkten Zugang zu Dienstleistungen erschwert. Die öffentliche Debatte schwankt zwischen Solidarität, der Notwendigkeit, einer überalterten Bevölkerung durch Migration entgegenzuwirken, und Bedenken hinsichtlich der Aufnahmekapazitäten.

In Frankreich zeigt eine 2022 vom Institut français des relations internationales (Ifri) veröffentlichte Studie, dass Flüchtlinge in Frankreich trotz aktiver Arbeitssuche oft mit prekären Arbeitsverträgen und beruflichem Abstieg konfrontiert sind und in Niedriglohnbranchen wie dem Bau-, dem Hotel- und Gaststättengewerbe überrepräsentiert sind. Auch auf europäischer Ebene wurden Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum und Bildung festgestellt.

Innerhalb von zehn Jahren hat sich in vielen Ländern und über politische Grenzen hinweg die Vorstellung durchgesetzt, dass die „Festung Europa” einer großen Gefahr ausgesetzt sei und um jeden Preis verteidigt werden müsse. Sowohl während ihrer Reise als auch nach ihrer Ankunft sind Vertriebene weiterhin mit den Folgen der durch die „Krise” gerechtfertigten Migrationspolitik konfrontiert. Der „Sommer der Migration” hat nie aufgehört: Er ist normal und ein fester Bestandteil unserer Gesellschaften geworden.

🤝 Dieser Artikel entstand im Rahmen des Projekts PULSE, einer europäischen Initiative zur Förderung internationaler journalistischer Zusammenarbeit.Irene Brickner, Hans Rauscher, Gerald John (Der Standard, Österreich), Silvia Martelli (Il Sole 24 Ore, Italien), Dimitris Angelidis (EfSyn, Griechenland), Daniela Ionita (OBCT, grenzüberschreitend) und Federico Baccini (OBCT) haben zu diesem Artikel beigetragen.

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