Ideen Leitartikel

Eine grüne europäische Welle gegen einen rauen nationalistischen Wind

Nach den Europawahlen, bei denen sowohl die umweltpolitischen und liberalen Kräfte als auch die Rechtsextremen Parlamentssitze dazugewonnen haben, ist die Zeit für Lösungen, Vorschläge, und starke transnationale Projekte gekommen. Nur auf diese Weise kann die so notwendige Wiederbelebung der Demokratie stattfinden.

Veröffentlicht am 30 Mai 2019 um 08:18

Ein anderes Europa ist aus der Wahlurne hervorgegangen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die europäischen Bürger das Interesse am politischen Leben nicht verloren haben, und dass die um die Zukunft Europas bangenden Kräfte durchaus lebensstark sind. In 20 der 28 EU-Länder ist die Wahlbeteiligung im Vergleich zu früheren Europawahlen deutlich gestiegen (50,2 Prozent gegenüber 42 Prozent im Jahr 2014). Junge Menschen gingen zur Wahl und waren die Haupt-Unterstützer der in vielen Ländern entstandenen grünen Welle. Auf diese Weise haben sie der Botschaft in der Wahlurne Ausdruck verliehen, die sie seit Monaten immer wieder gegenüber ihren Vorfahren und Politikern wiederholt hatten, und welche die massiven Demonstrationen von Schülern und Studenten geprägt hatte, die von der 16-jährigen schwedischen Gymnasiastin Greta Thunberg angeführt, und von Hunderttausenden anderer junger Menschen auf dem ganzen Kontinent weitergetragen wurden.

In einigen Ländern, wie Finnland und Irland, haben umweltpolitische Parteien ein historisches Ergebnis erreicht. In Deutschland verdoppelten Die Grünen ihren Anteil und rückten mit mehr als 20,5 Prozent der Stimmen auf den zweiten Platz vor. Ihre französischen Kollegen überraschten mit dem dritten Platz, d. h. 13,47 Prozent für Europe Ecologie-les Verts. Im Vereinigten Königreich (Green Party) und in Schweden erreichten die Umweltschützer jeweils 11 Prozent. Insgesamt werden 69 grüne Abgeordnete im neuen EU-Parlament sitzen. Bisher waren es 52.

Gleichzeitig erlitten die traditionellen politischen Kräfte eine bittere Niederlage, also sowohl die Sozialdemokraten (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Spanien und Schweden, wo sie haushoch gewannen) als auch die Konservativen (Les Républicains in Frankreich und die vom Brexit drangsalierten Tories im Vereinigten Königreich). Während dies das politische Kräfteverhältnis auf nationaler Ebene stören könnte, ist im Europäischen Parlament bereits eine Umgestaltung der politischen Bündnisse im Gange. Zu erwarten ist ein ganz besonders fragmentierter Abgeordneten-Saal.

Und auch wenn es Länder gibt, in denen die derzeitigen Regierungen an der Spitze der Wahlergebnisse stehen – mit Ausnahme von Frankreich und Österreich, wo Kanzler Sebastian Kurz am Tag nach den Wahlen gestürzt wurde –, bestätigte diese Wahl dennoch das Ende der Herrschaft der großen Mehrheitsparteien.

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Zugegebenermaßen ist fast jeder zweite Europäer nicht zur Wahl gegangen, und das ist immer noch viel. Und natürlich darf der vernichtende Sieg der Fidesz und ihres “Illiberalismus” in Ungarn, mit 52,3 Prozent der Stimmen (13 Abgeordnete) nicht vergessen werden, zumal sie ihre Punktzahl gegenüber 2014 verbessert hat. Ferner konnte Matteo Salvini mit seiner Lega in Italien mit 34 Prozent der Stimmen seine Macht und seinen Einfluss bestätigen. Unterdessen setzte der französische Präsident Emmanuel Macron auf die Strategie der Eindämmung des letztlich siegreichen Rassemblement national von Marine Le Pen, die sich am Ende als unmögliches Unterfangen erwies.

Und natürlich kann die Vormachtstellung der Pro-Brexit-Politiker unter Nigel Farage im Vereinigten Königreich und der Triumph der flämischen extremen Rechten in Belgien nicht geleugnet werden. Allerdings haben sich die rechtsextremen Parteien und die Personalisierung der Macht nur in einigen Ländern durchgesetzt. In anderen Staaten – wie in Dänemark – haben die Populisten 14 Prozent eingebüßt, und in Schweden erreichten die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, für die laut Umfragen 20 Prozent der Wähler stimmen sollten, schließlich 'nur' 15,4 Prozent, und stehen damit nur an dritter Stelle. Auch sei darauf hingewiesen, dass dies das einzige europäische Land ist, in dem die Umweltschützer im Vergleich zu 2014 an Terrain verloren haben.

Auch wenn wir bei der Interpretation dieser Trends natürlich vorsichtig bleiben, und ihren Schweregrad richtig einschätzen müssen, ändert dies nichts an der tatsächlichen Wirklichkeit dessen, was in vielen Ländern zeitgleich am Werk ist. Die Kombination aus der Kraft der Stimme für die Grünen, den Demonstrationen junger (und weniger junger) Menschen für das Klima, und die laufenden Prozesse gegen Staaten wegen klimatischer Tatenlosigkeit (Niederlande, Frankreich), lässt uns einen Vergleich wagen, der eher eine Frage der Erfahrung (wir waren dabei) als der trockenen Analyse ist. Vielleicht befinden wir uns an einem Wendepunkt, der genauso wichtig ist wie der Fall der Berliner Mauer, dessen Kraft und Bedeutung so groß war, dass nichts damals hätte verhindern können, was vor unseren Augen geschah: Das Ende eines Zeitalters und der Anfang einer neuen Epoche.

Die Zeit ist gekommen: Für Lösungen, Vorschläge, starke transnationale Projekte und die notwendige Wiederbelebung der Demokratie. Wir sind uns unserer Rolle als europäische Journalisten mehr denn je bewusst: Als Ideen-Multiplikatoren und Handwerker der vierten Macht auf europäischer Ebene, die wir mit Ihnen schaffen und stärken wollen. Deshalb sind wir stolz darauf, Ihnen diese Woche einen Artikel des Soziologen Alain Caillé, des Ingenieurs Thierry Salomon und des Philosophen Patrick Viveret zu empfehlen, der den Aufbau einer Meta-Nation in Form einer Europäischen Republik fordert. Zudem möchten wir auf diesen Artikel der Politikwissenschaftlerin (und Mitglied des Beratungsausschusses von VoxEurop) Ulrike Guérot hinweisen, die sich für eine gemeinsame Verfassung einsetzt, zumal diese den einzigen Weg darstellt, um den europäischen Bürgern die gleichen Rechte zu garantieren, und somit die Garantie eines wirklich demokratischen Europas ist.

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Wir werden unsere auch weiterhin tun.

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