Andrej Babis, Czech Rep. Marian Kamensky

„Sie hätten sich mehr Mühe geben sollen“: In Tschechien bleibt der Populismus ohne Antwort

Die tschechischen Populistinnen und Populisten sind auf dem Vormarsch, was teilweise auf die antisoziale Politik der rechten Regierung des Landes zurückzuführen ist. Während die Liberalen die Schuld auf Desinformation schieben, dümpelt die Linke weiter vor sich hin oder flirtet mit faschistischen Ideen. Und Migrierendenfeindlichkeit ist längst zum Mainstream geworden.

Veröffentlicht am 29 Mai 2024

An diesem 6. April klettern die Temperaturen auf über 30 Grad. Auf dem Malá Strana Platz, im Herzen der Prager Altstadt, werden heute die ersten Straßenmärkte des Jahres eröffnet. An den Ständen wird alles angeboten, von argentinischen Köstlichkeiten bis hin zu Bio-Limonade. Um den Markt zu erreichen, muss man sich jedoch durch eine Menge Hunderter, meist junger Menschen kämpfen, die nicht wegen eines Snacks hier sind. Sie halten Transparente mit Aufschriften wie „Mein Körper, meine Entscheidung“ oder „Die wahren Lebensschützer*innen sind wir“ in den Händen.

Peter, von der Studentenvereinigung Mater Noster, schreit in ein Megaphon. „Die sogenannte Pro-Life-Bewegung (Hnutí pro život) schützt kein Leben! Wir sind diejenigen, die für soziale Gerechtigkeit und Arbeitnehmer*innenrechte eintreten, wir schützen Leben! Pro-Life für Frauen, Pro-Life für Kinder, Pro-Life für queere Menschen, Pro-Life mit körperlicher Autonomie, Pro-Life mit Liebe!“

Photo: "Czechia against fear" (František Plzák)
Die Demonstration „Tschechien gegen die Angst“ in Prag, 30. Oktober 2023. | Foto: František Plzák

Währenddessen streitet sich eine Gruppe von Menschen in der ersten Reihe über die Zeitform des spanischen „No pasaran“ („Sie werden nicht durchkommen“).

Während die rosa Fahne über der Bühne weht, blockiert die Menge die nahe gelegene Brücke der Legionen. Einige Demonstrantinnen und Demonstranten sitzen auf dem Brückendeck, andere stehen zögernd am Rand. Die Blockade wird von zwei Kletterern gesichert, die die Brückenverkabelung erklommen haben. Der so genannte „Marsch für das Leben“, eine jährliche Anti-Abtreibungsdemonstration, ist noch nicht in Sicht, aber die Menge auf der Brücke skandiert bereits: „Klerikalfaschismus, Dreck und Abschaum!“


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Die tschechische Regierung macht es dem Neofaschismus leicht

Die Blockade des Anti-Abtreibungsmarsches im April, der vierte Protest dieser Art, ist die Fortsetzung der Tradition von Gegenprotesten bei Neonazi-Aufmärschen, die in den 1990er Jahren begann. Damals sahen die tschechischen Rechtsextremen noch aus wie das stereotype Bild eines Nazis: kahlgeschorene Köpfe, Springerstiefel und Hakenkreuze.

Wie der Politikwissenschaftler Jan Charvát betont, fiel es nicht schwer, die Figur des neonazistischen Skinheads zu denunzieren. Das gilt selbst für Menschen, die einige Ansichten der Rechtsextremen teilten – zum Beispiel in Bezug auf die Roma

„Und ja, lange Zeit sprachen sich nur Anarchistinnen und Anarchisten wirklich laut und deutlich gegen die Neonazis aus“, betont Charvát. „Aber die Anarchistinnen und Anarchisten haben auch gesagt: Wir sind nicht die Zivilgesellschaft, wir sind gegen den Staat. So wurden die antifaschistischen Blockaden in den Medien als ein Konflikt zwischen zwei extremen und marginalen Gruppen dargestellt, als ein Kampf zwischen Skinheads und Punks, der den normalen Menschen nicht betraf.“ Diese Blockaden endeten 2007. Die Anarchistinnen und Anarchisten erkannten, dass die Neonazis hauptsächlich zu den Demos gingen, um Auseinandersetzungen mit ihnen anzufachen, sagt Charvát.

Im Jahr 2015, als Reaktion auf die sogenannte Migrationskrise, änderten die Rechtsextremen schließlich ihre Taktik. An die Stelle von Rassismus und Antisemitismus trat Islamophobie; offener Nationalismus wurde durch „Euroskeptizismus“ ersetzt und die Neigung zum Autoritarismus durch einen rhetorischen Aufruf zur direkten Demokratie (die stärkste rechtsextreme Partei in Tschechien heißt Freiheit und direkte Demokratie).

Bei ihren Anti-Geflüchteten-Veranstaltungen standen Männer in Anzügen als Redner auf der Bühne. Es gelang ihnen, einen Teil der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Welt von „nicht gewählten“ Nichtregierungsorganisationen kontrolliert wird. In ganz Europa gab es Solidaritätskundgebungen mit den syrischen Geflüchteten, aber in Prag kamen nur ein paar Dutzend Menschen, um sich für deren Aufnahme einzusetzen.

Die Ablehnung von Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Afrika wurde zu einem Konsenspunkt in der Mainstream-Politik. Die Tschechische Republik nahm damals insgesamt zwölf Geflüchtete im Rahmen von EU-Quoten auf. Das Schreckgespenst der muslimischen Einwanderung hatte damit bald keine mobilisierende Funktion mehr.

Die Desinformationsmaschine und die Rechtsextremen wandten sich anderen Krisen zu: der Coronavirus-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen, dem Ukraine-Krieg und der Ankunft einer halben Million Geflüchteten aus diesem Land. Und, nicht zuletzt, der Inflation.

All diese Krisen erreichten ihren Höhepunkt zu einem Zeitpunkt, als die Reallöhne in Tschechien seit mehr als zwei Jahren kontinuierlich sanken. Ende 2022 war es der stärkste derartige Rückgang in der OECD.

Die rechtsgerichtete tschechische Regierung reagierte auf diese anhaltende Verarmung der Bevölkerung mit der sogenannten „Austerität“, also einer neoliberal motivierten Kürzungspolitik. Dies spielte den faschistischen Strömungen in der Gesellschaft in die Hände. Sie schoben die Schuld für den wirtschaftlichen Abschwung unter anderem auf die Hilfe für die Ukraine und den (wenn auch rhetorischen) Widerstand der Regierung gegen russisches Gas.

Im September 2022 rief Jindřich Rajchl, ein ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Bewegung Trikolóra, zu einer regierungsfeindlichen Demonstration auf, Tschechien gegen Armut. Zu den Forderungen gehörten die Verstaatlichung des Energieunternehmens CEZ, die Abschaffung des Medien- und Desinformationsbeauftragten der Regierung und die Einstellung der Militärhilfe für die Ukraine. Er füllte den Wenzelsplatz: über 70.000 Menschen waren gekommen.

Die moralische Überlegenheit der tschechischen Liberalen

„Wir waren alle entsetzt, dass es den Angstmachern gelungen ist, so viele ihrer Anhänger*innen auf den Wenzelsplatz zu bringen“, erinnert sich Mariana Novotná von Milion Chvilek Pro Demokracii („Eine Million Momente für die Demokratie“), eine Bürgerinitiative, die ab 2017 massive Proteste – die größten seit der Revolution von 1989 – gegen Andrej Babiš, Tschechiens (angeklagten) konservativen Premierminister, Geschäftsmann und Medienbesitzer in einer Person, organisierte. „Aber wir haben eine Menge wirtschaftlicher Ängste wahrgenommen. Die tschechische Gesellschaft hatte Angst, dass sie im Winter nicht in der Lage sein würde, die Wohnungen zu heizen. Wir wollten also Menschen zusammenbringen, die trotz der Angst eine pro-europäische Richtung unterstützen. Um deutlich zu machen, dass keiner von uns mit solchen Problemen allein ist.“

Das ist ihnen in gewissem Maße gelungen. Andrej Babiš erhielt bei den Wahlen 2021 keine Mehrheit. Die Demonstration „Tschechien gegen die Angst“ im Oktober 2022 wurde von ähnlich vielen Menschen besucht wie die von Jindřich Rajchl. Novotná gibt jedoch zu, dass die „Chvilkaři“ darauf achten, ihre Kritik an der Regierung zu begrenzen, um Babiš oder der rechtsextremen SPD nicht zu helfen.

Wenn die Gruppe die Regierung in die Pflicht nimmt, dann zu Themen wie Desinformation oder dem Interessenkonflikt von Justizminister Pavel Blažek. „Wir mussten unseren Fokus eingrenzen. Wir konzentrieren uns nicht auf sozioökonomische Fragen. Das ist nicht unser Hauptthema und wir haben nicht das nötige Fachwissen“, erklärt Novotná.

Die wichtigste Reaktion der tschechischen Liberalen auf den schleichenden Vormarsch des Neofaschismus sind die geduldigen Bemühungen, Desinformation zu widerlegen. Leider geht dies oft mit einem Anflug von moralischer Überlegenheit gegenüber den „ungebildeten Massen“ einher, was durch den Begriff „dezolát“ („verblendet“), mit dem diejenigen bezeichnet werden, die Desinformationen verbreiten und unterstützen, sehr anschaulich dargestellt wird.

Liberale, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Regierungskoalition, neigen dazu, die Tatsache herunterzuspielen, dass die Regierung selbst ihre potenziellen Unterstützer in die Arme der Rechtspopulisten treibt – durch ihre antisoziale Politik. Die „dezoláti“ hätten sich mehr Mühe geben sollen, besser ausgebildet und reicher zu sein.

„Heutzutage haben sie außer Angst nichts zu bieten“, kommentiert Dave von der Initiative Illumicati, deren Mitglieder mit ukrainischen Fahnen an Rajchls nationalistischen Demonstrationen teilgenommen haben. „Sie machen sich den Unmut der weniger wohlhabenden Bevölkerung zunutze, deren Probleme sich leicht auf die Regierung schieben lassen. Das soll nicht heißen, dass die Regierung alles richtig macht, aber man muss sich fragen, ob das Problem nicht teilweise selbstverschuldet ist.“

Was die tschechischen Liberalen am meisten an dem heutigen, dem Faschismus nahestehenden Populismus stört, ist nicht seine geflüchtetenfeindliche oder frauenfeindliche Rhetorik, sondern dass er oft pro-russisch ist. Die „Anti-System“-Opposition übt in der Tat lautstarke Kritik an der westlich orientierten Außenpolitik der tschechischen Regierung.

Die Misere der tschechischen Linken

Die sozialen Wurzeln des Neofaschismus werden also nur von einer Minderheit der heutigen progressiven Linken als Priorität betrachtet. Im Allgemeinen zieht sie es vor, die Rechtspopulisten (zu Recht) wegen kultureller Fragen wie der Abtreibung anzugreifen.

„Wir sind keine politische Partei und es ist nicht unsere Aufgabe, irgendjemanden zu überreden“, argumentiert Kryštof (Name auf seinen Wunsch geändert) vom Kolektiv 115, das die Blockade des Marsches für das Leben mitorganisiert hat. „Wir setzen uns für eine Politik ein, die sich auf arbeitende Menschen, Migrierende, Roma und Trans-Menschen stützt. Wir lehnen die Idee einer generischen ‚Arbeiter*innenklasse‘ ab, die fremdenfeindlich ist und bleiben wird.“

Die jüngste Blockade hat viele Menschen mobilisiert, aber sie war eine Ausnahme. „Das Recht auf Abtreibung betrifft die Hälfte der Bevölkerung“, erklärt die Soziologin Eva Svatoňová die hohe Beteiligung. „Gleichzeitig ist es ein verbindendes Thema, bei dem sich die Linke und die Feministinnen einig sind. Außerdem können wir leicht sehen, was die Pro-Life-Bewegung in den Vereinigten Staaten, Polen, Italien und der Slowakei bewirkt hat.“

Dagegen war eine Demonstration Mitte März anlässlich des Internationalen Tages gegen Rassismus und Faschismus nur spärlich besucht. Die tschechische Linke schwächelt und bleibt gespalten. Im Jahr 2021 fiel sie zum ersten Mal komplett aus dem Parlament, da ihre Wählenden durch die populistische ANO-Bewegung von Premierminister Andrej Babiš vergrault wurden. Die sozialdemokratische Partei hatte sich dummerweise dazu entschlossen, zwei Legislaturperioden lang an seiner Koalition teilzunehmen, und selbst die kommunistische Partei hat sie mehrere Jahre lang unterstützt.

Die Situation wird durch die migrierendenfeindliche und frauenfeindliche Rhetorik aus konservativen Kreisen der tschechischen Linken noch komplizierter. Man glaubt vergeblich, dass dies dazu beitragen wird, traditionelle linke Wählende zurückzugewinnen und der Linken zu helfen, wieder relevant zu werden.

Die so genannten Kommunistinnen und Kommunisten treten ihrerseits bei der diesjährigen EU-Wahl an der Seite ehemaliger Mitglieder der rechtsextremen Bewegung von Jindřich Rajchl an. Und es wird immer schwieriger, den Überblick über die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu behalten, die zur extremen Rechten übergelaufen sind.

Bohumír Dufek, Vorsitzender des Verbands unabhängiger Gewerkschaften, sprach sogar auf Rajchls Demonstrationen. Später lud er den berüchtigten Desinformanten Daniel Sterzik zu einer Demonstration anlässlich eines Lehrkräftestreiks ein – und lieferte damit den Mainstream-Medien einen Vorwand, über etwas anderes als die Forderungen der Streikenden zu berichten.

Der Politikwissenschaftler Ondřej Slačálek kommentiert, dass „die Rolle der extremen Rechten in unserem Land von einer neuen Strömung des Konservatismus übernommen wurde, die sowohl von rechts als auch von links kommt und sich als feindlich gegenüber Migrierenden, Frauen, Minderheiten und dem zeitgenössischen Liberalismus identifiziert. Das hat sich gezeigt, als das Parlament weder der gleichgeschlechtlichen Ehe noch der Istanbuler Konvention (über häusliche Gewalt) zustimmte.“

Sein Kollege Charvát glaubt, dass die Lethargie der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber der faschistischen Bedrohung auch auf ihr Verständnis der tschechischen Geschichte zurückzuführen ist: „Wir halten uns für eine kleine Nation, dabei zählen wir in Europa eher zu den mittelgroßen. Es gibt ein unterschwelliges Gefühl, dass wir manipuliert werden, dass wir an der Peripherie zwischen Russland und Deutschland festsitzen.“

Diese Demobilisierung wurde in den 1990er Jahren von Václav Klaus, dem rechtsgerichteten Ministerpräsidenten und späteren Vorsitzenden der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS), weiter angeheizt. „Klaus sah im bürgerlichen Aktivismus eine Verdrängung der politischen Parteien, die Wahlen gewinnen mussten und daher die einzigen legitimen Akteure waren, die Unterstützung verdienten“, fügt Charvát hinzu.

Ein starker Gegner

In der Zwischenzeit verliert die heutige rechtsgerichtete tschechische Regierung weiter an Unterstützung: Ihre Zustimmungsrate liegt derzeit bei 17 %. Eineinhalb Jahre vor den Parlamentswahlen scheint die Rückkehr von Babiš als Ministerpräsident fast unvermeidlich.

Es bleibt die Frage, ob er allein oder in einer Koalition regieren wird. Mögliche Partner*innen sind die rechtsextreme SPD oder die konservative ODS. Letztere ist die stärkste Partei in der gegenwärtigen Regierung, trat ihr aber gerade dank des Versprechens bei, Babiš von der Macht zu entfernen und „die tschechische Demokratie zu retten“. 

Ihre Präsenz in der Regierung ist jedoch für die mächtigen Vertreter der tschechischen Oligarchie von Vorteil, so dass eine Einigung zwischen der ODS und Babiš nach den Wahlen möglich erscheint. Das Schreckgespenst einer Koalition aus Babišs ANO und der SPD könnte sich sogar als Alibi erweisen, das es der ODS ermöglicht, mit Babiš zu regieren.

Wie auch immer es ausgeht – mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die nächste tschechische Regierung nicht-weißen Geflüchteten gegenüber unsympathisch sein und sich der Oligarchie der fossilen Brennstoffe und der Agrarindustrie unterordnen. Ihre Priorität dürfte nicht der soziale Zusammenhalt sein. 

Eine Machtübernahme durch die Rechtsextremen, wie sie traditionell definiert werden, steht nicht unmittelbar bevor, auch wenn sich die nächste Babiš-Regierung als autoritär erweisen könnte. Aber etwas von der rechtsextremen Weltanschauung ist schon lange in den demokratischen Mainstream Tschechiens eingesickert. Das wird schwerer zu bekämpfen sein als ein Haufen Glatzköpfe mit Springerstiefeln.


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