Deutschland wurde erstmals im Jahr 1999 in der Zeitschrift The Economist als „Kranker Mann Europas“ bezeichnet. Damals hatte das Land nach der Wiedervereinigung mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Die Arbeitsmarktreformen, die Bundeskanzler Schröder damals einleitete, waren letztendlich erfolgreich, und 2014 lobten Ökonomen den Wandel Deutschlands zum „wirtschaftlichen Superstar“.
Zehn Jahre später taucht diese wenig schmeichelhafte Bezeichnung wieder auf. 2023 war Deutschland das einzige Mitglied der G7, dessen Wirtschaft schrumpfte, und Prognosen des IWF deuten darauf hin, dass die wirtschaftliche Entwicklung auch 2024 hinter den anderen G7-Staaten zurückbleiben wird. Die Stimmen, die einer unwiderruflichen Schädigung des einst gepriesenen Wirtschaftsmodells das Wort reden, mehren sich.
Laut Igor Steinle, einem politischen Redakteur der Südwestpresse, hat die derzeitige Wirtschaftskrise Deutschlands ein Gesicht: Volkswagen. Der Autohersteller war einst ein deutsches Wahrzeichen und kämpft nun darum, auf dem Markt für Elektrofahrzeuge mit den chinesischen und US-amerikanischen Wettbewerbern Schritt zu halten. Zum ersten Mal seit 30 Jahren kündigte Volkswagen Massenentlassungen an und könnte sogar Werke in Deutschland schließen – ein absolutes Novum in der Geschichte der Marke. Der Dominoeffekt in den Lieferketten könnte zu einem Anstieg der Insolvenzen um 20 % führen. Steinle verweist auf eine Studie des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI), die davor warnt, dass Deutschland der größte Transformationsprozess seit der Nachkriegszeit bevorsteht, der mit dem Marshallplan vergleichbar sei, weil das Land den Strukturwandel und die Klimaziele gleichzeitig bewältigen muss. Der BDI schätzt den Investitionsbedarf für die Modernisierung der Infrastruktur, des Bildungswesens und der Gebäude auf 1,4 Billionen Euro, zu denen der Staat voraussichtlich 460 Milliarden Euro beisteuern muss.
In der englischsprachigen Zeitschrift The European schreibt Rainer Zitelmann, die Ursachen für die derzeitige wirtschaftliche Schieflage Deutschlands lägen in den fehlenden Reformen der Ära Merkel und der „Umwandlung des Energiesektors in eine Planwirtschaft“. Durch die teure „Energiewende“, die bis 2035 voraussichtlich 1,2 Billionen Euro kosten wird, sei die Produktion für viele Unternehmen zu teuer geworden. Das EU-Verbot von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2035 sei für den deutschen Automobilstandort eine zusätzliche Bedrohung. Zitelmann ist der Meinung, dass Deutschlands Probleme durch das Zusammenspiel von schlecht gesteuerter Einwanderung und der Abwanderung von Fachkräften noch verschärft werden. Gleichzeitig hat Deutschland mit einer erheblichen Abwanderung seiner klügsten Köpfe zu kämpfen und steht mit einer Abwanderung von 5,1 % weltweit an dritter Stelle. Erstaunlicherweise haben drei Viertel der Auswandernden einen Universitätsabschluss und suchen im Ausland bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen.
Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Deutschlands wirken sich auf ganz Europa aus, vor allem in Ländern wie der Tschechischen Republik mit ihrer starken Abhängigkeit vom Nachbarland: 9 % des BIP und 30 % der Exporte sind mit Deutschland verbunden. In Hospodářské noviny, spricht sich Pavel Sobíšek jedoch gegen übermäßigen Pessimismus aus. Aus seiner Sicht sind die wirtschaftlichen Herausforderungen Deutschlands Teil eines natürlichen Konjunkturzyklus. Er weist darauf hin, dass sich das Land bis 2017 besser entwickelt habe als der Euroraum, aber seitdem mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Sobíšek geht davon aus, dass die Folgen der deutschen Probleme kein Grund zu Panik seien und dass es sich lohnen könne, dem Land in diesen schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen, denn es könnte seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schon in naher Zukunft wiedererlangen.
Gyula Szabó, ein Journalist bei Index, einer Publikation mit engen Verbindungen zur Regierung von Premierminister Viktor Orbán, liefert eine weniger versöhnliche Einschätzung der Situation aus Ungarn, einem Land, das ebenfalls stark von der deutschen Automobilindustrie abhängig ist. Szabó schreibt, dass das europäische Wirtschaftsmodell seit der Schuldenkrise 2011 auf einem deutschen Fundament aufgebaut sei, und dass ein Bröckeln dieses Fundaments darauf hindeute, dass Europa keinen tragfähigen Wirtschaftsplan habe. Er lehnt Viktor Orbáns Forderung nach „wirtschaftlicher Neutralität“ bei Finanzen, Investitionen, Märkten, Technologie und Energie als Antwort auf die schwindende Wettbewerbsfähigkeit Europas ab. Szabó vertritt die Ansicht, dass dieser Ansatz aufgrund der tiefen Integration Ungarns in die europäische Wirtschaft keine Lösung sei. Seiner Meinung nach sollte man sich dringend zunächst mit den schwankenden Energiepreisen befassen und eine rationale, pragmatische Energiepolitik verfolgen. Dabei deutet er an, dass es möglicherweise unklug gewesen sei, auf billiges Öl und Gas aus Russland zu verzichten.
„Wir werden alle härter und länger arbeiten müssen“, erklärt Ronald Ižip, Chefredakteur der Zeitschrift Trend aus der Slowakei und fasst damit die Reaktion auf die schwächelnde Wirtschaft in Deutschland – und damit in Europa – zusammen. Unter Berufung auf Christian Sewing, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, weist Ižip darauf hin, dass die Stagnation in Deutschland und das schwindende Vertrauen der Investoren es unter Umständen erforderlich machen, dem Beispiel Griechenlands zu folgen und eine Sechs-Tage-Woche einzuführen. Daten der OECD zeigen, dass Deutsche im Durchschnitt nur 26 Stunden pro Woche arbeiten – acht Stunden unter der OECD-Norm. Dieses Missverhältnis deutet auf eine mögliche Umkehrung des langjährigen Trends zur Arbeitszeitverkürzung hin. Aber Politikerinnen und Politiker in Mitteleuropa setzen sich weiterhin für kürzere Arbeitszeiten und einen früheren Renteneintritt ein, was Ižip für zunehmend untragbar hält. Die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands und der Slowakei ähneln sich, und Ižip warnt, dass der slowakischen Politik schon bald ein böses Erwachen droht: Wie soll sie angesichts des schleppenden Wirtschaftswachstums und des Arbeitskräftemangels mit einem sich wandelnden europäischen Arbeitsumfeld umgehen?
Das Ende des Schengen-Raums?
Als wären die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands nicht genug, hat Innenministerin Nancy Faeser vorübergehende Grenzkontrollen an allen deutschen Landesgrenzen angekündigt, angeblich um die illegale Einwanderung zu bekämpfen und die innere Sicherheit zu stärken. Mit diesem Schritt werden für mindestens sechs Monate bestehende Grenzkontrollen zu Österreich, der Tschechischen Republik, Polen und der Schweiz ausgeweitet und neue Kontrollen an den Grenzen zu Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und Dänemark eingeführt. Die Entscheidung hat die Europäische Union erschüttert, und viele fürchten um die Zukunft einer ihrer größten Errungenschaften: des Schengen-Raums. In der Zeitung El País warnt Gloria Rodríguez-Pina, der freie Personen- und Warenverkehr – ein Eckpfeiler der europäischen Integration – stehe derzeit auf wackligen Beinen. Das einseitige Vorgehen Deutschlands verärgert nicht nur seine Nachbarländer, es alarmiert auch Fachleute, die darin ein mögliches Todesurteil für das Schengener Abkommen sehen.
Diese Bedenken hegt man auch im Nachbarland Portugal. Dort zitiert Luana Augusto in Sábado Francisco Pereira Coutinho, einen Experten für europäisches Verfassungsrecht. Er argumentiert, solche Grenzschließungen seien wahrscheinlich keine Lösung für das Migrationsproblem und könnten stattdessen die europäische Integration in die 1980er Jahre zurückwerfen. Zudem hätten die längeren Wartezeiten an den Grenzen womöglich gravierende wirtschaftliche Folgen. Pereira Coutinho meint, die Maßnahme sei eher politischer als praktischer Natur: Eine linksgerichtete Regierung, die in der Einwanderungsfrage die Muskeln spielen lässt, um sich gegen die Rechte zu behaupten. In einer Zeit, in der Europa mit wirtschaftlichen Problemen und Einwanderungsdruck zu kämpfen hat, steht nun die Zukunft der Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Raums auf dem Spiel.
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