Presseschau Open Europe

Migration, Apathie und politischer Opportunismus

Während die europäische Öffentlichkeit das Interesse an den gängigen Katastrophen auf den Migrationsrouten verliert, wird die Frage der Aufnahme unermüdlich von einer politischen Sphäre auf der Suche nach Stimmen vereinnahmt, selbst auf die Gefahr hin, ein vergiftetes soziales Klima aufrechtzuerhalten oder die Desinformation zu nähren. Eine Instrumentalisierung mit sehr realen Folgen: Ein Überblick über die europäische Presse, in Zusammenarbeit mit Display Europe.

Veröffentlicht am 26 Oktober 2023 um 10:25

Wer sorgt sich noch um Migrant*innen? Diese Frage stellt die Journalistin Annalisa Camilli in der italienischen Zeitschrift Internazionale. Die Schiffbrüche der Boote mit Exilierten und die scheinbare Gleichgültigkeit der Europäer*innen gegenüber den tragischen Todesfällen, deren Schauplatz das Mittelmeer nun regelmäßig ist – über 2.500 im Jahr 2023, so manche Schätzungen – bedrücken Camilli. Sie versucht, die Denkmechanismen zu entwirren, die zu einer solchen Apathie führen können. „Wie ist es dazu gekommen“, fragt sie. „Wie konnte der Schiffbruch von Pylos, vielleicht der tragischste in der jüngeren Geschichte des Mittelmeers, nicht einmal in die Schlagzeilen kommen? Wie können wir diese schwankende Aufmerksamkeit akzeptieren?“.

Politisches Spiel

Camilli weist neben anderen potenziellen Schuldigen für dieses Desinteresse auf die Instrumentalisierung durch unsere gewählten Vertreter hin, der die Migration seit Jahren unterliegt. In El Confidencial veröffentlicht Nacho Alarcón als regelrechtes Paradebeispiel eine aufschlussreiche Zusammenfassung eines Ereignisses während der informellen Tagung der EU-Staats- und Regierungschefs am 6. Oktober in Granada. Das Treffen sollte nämlich die Gelegenheit bieten, vorrangig über strategische Autonomie und die Erweiterung der EU zu diskutieren, wurde aber von Ungarn und Polen zweckentfremdet, um dort mit Nachdruck ihre Beschwerden gegen die Migrationspolitik der EU vorzubringen. Eine ideale Gelegenheit für den polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki (Recht und Gerechtigkeit, PiS, ultrakonservativ), den Boden für die Parlamentswahlen am 15. Oktober zu bereiten, bemerkt Alarcón.

Parallel zu den Wahlen in Polen sollte auch ein von der Regierung initiiertes Referendum stattfinden, das vier Fragen umfasste, darunter eine zur „Aufnahme von Tausenden illegaler Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika [...] aufgezwungen durch die EU-Bürokratie“. Die Abstimmung wurde von Fachleuten wegen ihres irreführenden und katastrophisierenden Charakters weitgehend kritisiert, berichtet Alicja Gardulska für die polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Der 15. Oktober war ein verhängnisvolles Datum für die PiS: Sie hat die Wahlen gewonnen, aber ihre absolute Mehrheit verloren und musste am selben Tag erleben, wie die Ergebnisse ihres Referendums für nicht bindend erklärt wurden, weil es das erforderliche Quorum nicht erreicht hat. Es ist eben nicht immer alles so, wie es auf den ersten Blick scheint.

Sieg im Bewusstsein

Trotz einiger Rückschläge scheinen die Hardliner*innen in Europa derzeit leichtes Spiel zu haben, sowohl vor Ort als auch im Bewusstsein der Europäer*innen: Nach einem Eurobarometer-Bericht vom Juni dieses Jahres sind 24 % der befragten europäischen Bürger*innen der Ansicht, dass die Einwanderung „eines der beiden wichtigsten Probleme darstellt, mit denen die EU konfrontiert ist“. Doch wie Olivier Lenoir, Elena Maximin und Marin Saillofest in einer umfassenden Analyse für Le Grand Continent berichten: „In der Union schätzen im Durchschnitt nur 19 Prozent der Bevölkerung den Anteil der nichteuropäischen Eingewanderten in ihrem Land richtig ein“. Und weiter: „Kein Staat hat eine Erfolgsquote [wenn es darum geht, den Anteil nichteuropäischer Eingewanderter zu schätzen] von mehr als 50 %. Ein Drittel der Europäer*innen interagiert nie mit Migrant*innen (oder weniger als einmal pro Jahr)“.

Eine weitere Studie, die diesmal vom Forschungszentrum Midem der Universität Dresden in einem Dutzend Ländern durchgeführt wurde, ergab, dass die Migration für die befragten Europäer*innen eines der beiden am stärksten polarisierenden Themen darstellt, gleichauf mit dem Klimawandel. 

In dem Maße, wie der Imperativ der Achtung der Grundrechte aus den Debatten um die Migration verschwindet, werden diese schließlich zu ebenso vielen politischen Schlachtfeldern, deren Auswirkungen auf die – insgesamt schlecht informierte – Öffentlichkeit, und vor allem auf die Exilant*innen selbst, in den Hintergrund treten.

Unvorhersehbare Folgen

Die europäische Antwort scheint derzeit darin zu bestehen, härter durchzugreifen, selbst wenn man seine Werte verscherbelt, mit Diktatoren gemeinsame Sache macht oder die Menschen auf hoher See ihrem Schicksal überlässt, wie Claudio Francavilla von Human Rights Watch für Politico Europe analysiert. Auch wenn das einem Spiel mit dem Feuer gleichkommt. „Die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten für kurzfristige politische Gewinne zu opfern, ist nicht nur eine unmoralische Entscheidung, sondern auch Teil einer Kettenreaktion, die verheerende Auswirkungen auf die Union und ihre Gründungswerte haben könnte“, warnte er. „Das nächste Opfer der Migrationsbesessenheit des Blocks könnte die EU selbst sein“.


Zu Migration und Asyl

„Vergewaltigung als fast unvermeidliches Schicksal bei der Migration“: In Marseille sagen acht Frauen aus

Lorraine de Foucher | Le Monde | 18. September | FR (Paywall)

Eine in The Lancet veröffentlichte Studie, die unter 273 Asylbewerberinnen durchgeführt wurde, zeigt, dass 26 % von ihnen angeben, in den letzten zwölf Monaten auf französischem Boden Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, während 75 % erklären, vor ihrer Einreise nach Frankreich Gewalt erfahren zu haben. Le Monde hat acht erschütternde Berichte von Asylbewerberinnen gesammelt, die von den Gefahren zeugen, denen diese Frauen täglich ausgesetzt sind.

Zehntausende Geflüchtete und Hunderte Tote: Das Ende der Republik Berg-Karabach

iStories | 26. September | RU

„An der Grenze zwischen Bergkarabach und Armenien, am Ende des Latschin-Korridors, bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an“, lanciert das unabhängige russische Investigativmedium iStories. Die Reportage, die in der „Pufferzone“ entstand, wo Ärzt*innen und Freiwillige versuchen, Geflüchteten aus der nicht anerkannten Republik zu helfen, berichtet aufschlussreich von dem Chaos, das die Offensive Aserbaidschans am 19. September mit sich brachte.

Auf der Suche nach einem neuen Zuhause: Zorak

Ani Gevorgyan | EVN Report | 9. Oktober | EN

Für das armenische Medium EVN Report porträtiert Ani Gevorgyan ebenfalls Geflüchtete aus Bergkarabach, die im Dorf Zorak Zuflucht gesucht haben. Gevorgyan berichtet in seiner Reportage anhand von Fotos über den erschütterten Alltag der Dorfbewohner*innen und die Solidarität, die sie zeigen – manchmal gegenüber Familien, von denen sie nichts wissen.

Die Polen wurden in Frankreich herzlich willkommen geheißen. Als es dann an Arbeit mangelte, waren sie plötzlich „schmutzig“.

Kaja Puto | Krytyka Polityczna | 14. Oktober | PL

In diesem Interview mit der Journalistin Aleksandra Suława für das polnische Medium Krytyka Polityczna schildert Kaja Puto die Geschichte der polnischen Eingewanderten, die im letzten Jahrhundert nach Frankreich kamen, um insbesondere im Kohlebergbau zu arbeiten. Diese zeitlos klingende historische Episode von der Aufnahme der anfänglich willkommenen Eingewanderten bis zu deren Ablehnung während der Großen Depression wirkt erstaunlich aktuell.

Illegal und doch überqualifiziert: In Europa werden Migrant*innen aufgrund eines Vorurteils ausgeschlossen

Oiza Q. Obasuyi | Open Migration | 17. August | EN

Laut einer von der Vrije Universiteit in Brussels (VUB) veröffentlichten Studie sind Migrant*innen in Europa Opfer des Vorurteils, dass sie weniger qualifiziert sind als die Arbeitnehmer des Kontinents. Da ihre Abschlüsse und ihre bisherige Berufserfahrung nicht immer angemessen anerkannt werden, haben Migrant*innen häufig Jobs inne, für die sie überqualifiziert sind, fasst Oiza Q. Obasuyi für Open Migration zusammen.

In Zusammenarbeit mit Display Europe, kofinanziert von der Europäischen Union. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union oder der Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologie wider. Weder die Europäische Union noch die Bewilligungsbehörde können für sie verantwortlich gemacht werden.
ECF, Display Europe, European Union

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