Interview Was ist los mit der Liebe?

Lea Melandri: „Häusliche Gewalt entsteht unter dem Deckmantel der Liebe”

„Das Persönliche ist politisch” – #MeToo und feministische Bewegungen auf der ganzen Welt haben diesen historischen Slogan des Feminismus wieder in den Mittelpunkt der Debatte gerückt. Zurecht. Denn es ist unmöglich, über Frauenmorde und Patriarchat zu sprechen, ohne die strukturelle Beziehung zwischen Liebe und Gewalt zu berücksichtigen, meint Lea Melandri.

Veröffentlicht am 4 März 2024 um 10:19
Lea Melandri

Lea Melandri (1941) ist Essayistin, Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist eine der wichtigsten Vertreterinnen des italienischen Feminismus. Ihr neuestes Buch trägt den Titel Love and Violence: The Vexatious Factors of Civilization (Albany: State University of New York Press, 2019). Weitere Werke finden Sie in Leas Archiv

Die Dominanz der Männer ist anders als andere Formen der Macht. Was macht sie so besonders? 

Lea Melandri: Von allen Herrschaftsformen der Geschichte ist die männliche insofern etwas ganz Besonderes, als sie die intimsten Bereiche wie Sexualität, Mutterschaft und Familienbeziehungen betrifft. Männer sind Kinder von Frauen und damit zunächst Teil eines weiblichen Körpers, der sie im Moment ihrer größten Abhängigkeit und Hilflosigkeit hervorgebracht hat. Es ist der Körper, dem sie in den ersten Lebensjahren ausgeliefert sind, der sie versorgen oder verlassen kann, den sie also zunächst als mächtig erleben, ein Körper, dem sie in ihrem erwachsenen Liebesleben in einer umgekehrten Machtposition begegnen werden. Indem er die Frau in die Mutterrolle zwingt, ist auch der Mann gezwungen, seine Männlichkeit als permanent bedroht darzustellen und unentbehrliche Bindungen einzugehen, auch wenn sie eigentlich nicht notwendig sind.

Der Traum von der Liebe als intime Zugehörigkeit zu einem anderen Wesen, als Einheit zu zweit, als Erweiterung des ursprünglichen Bandes zwischen Mutter und Kind, birgt in sich die Gefahr des gewaltsamen Zerreißens, verbunden mit dem Autonomiebedürfnis des Einzelnen. 

Die Geschlechterrollen, die gleichzeitig komplementär und hierarchisch sind, führen zu Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen. Gleichzeitig verfolgen Paare jedoch das Ideal einer harmonischen Vereinigung untrennbarer Teile des menschlichen Wesens: Körper und Geist, Gefühle und Vernunft usw. Es ist genau diese Verwechslung von Liebe und Gewalt, die das Entstehen eines Bewusstseins für Sexismus auch heute noch behindert und so schleppend macht. 

Sie schreiben: „Anstatt Gewalt bloß zu beklagen, härtere Strafen für Gewalttäter oder mehr Schutz für die Opfer zu fordern, wäre es sinnvoller, dorthin zu schauen, wo wir Gewalt bisher nicht sehen wollten.” Was sind das für „Zonen”? Sie sprechen sowohl von öffentlichen als auch von Seelenorten…

Ich denke, es ist sinnvoll bei dieser Frage, die große „Herausforderung” oder die Revolution des Feminismus in den 1970-er Jahren als Ausgangspunkt zu nehmen: die Erkenntnis, dass die universellsten Erfahrungen des Menschen - Sexualität, Mutterschaft, Geburt, Tod, Familienbande - seit Jahrtausenden als „unpolitisch”, also auf das „Private” und die „Natur” beschränkt wurden und als solche dazu bestimmt waren, „Dauerzustände” zu bleiben. Was wir heute noch als „Orte der Seele” betrachten, gehörte jedoch seit jäh her zur Geschichte, zur Kultur und zur Politik. Der Slogan „Das Persönliche ist politisch” bedeutet, anzuerkennen, dass es im individuellen Leben, in persönlichen Erfahrungen, aber auch im Gedächtnis des Körpers noch zu entdeckende Kulturschätze gibt, eine ungeschriebene Geschichte, die in keinem Handbuch steht und in keiner Wissenschaft oder Sprache zu finden ist. In diesen „Zonen”, die außerhalb des öffentlichen Diskurses geblieben sind, weil man sie versteckt hat aus Scham, Ignoranz oder wegen ihrer „Unaussprechlichkeit”, suchte die Generation von damals nach der Grundlage der Trennung zwischen Politik und Sexualität, zwischen dem Schicksal von Mann und Frau sowie dem Ursprung allen Dualismus: Biologie und Geschichte, Individuum und Gesellschaft.

Lea Melandri - Amore e violenza

Die erste Form der Gewalt, die mir in jenen Jahren bewusst wurde, konnte nur das sein, was ich „unsichtbare Gewalt” oder „symbolische Gewalt” genannt habe: eine männliche Repräsentation der Welt, die sich die Frauen selbst gewaltsam zu eigen und regelrecht „einverleibt” haben. Es ist kein Zufall, dass Opfer und Täter die gleiche Sprache sprechen. Denn was blieb den Frauen anderes übrig, als sich in Rollen zu zwängen wie - 'Mutter von', 'Ehefrau von' - und zu versuchen, sich innerhalb dieser Rollen zumindest etwas stark und glücklich zu fühlen. 

Unsere Generation hat sich gegen die Mütter auflehnt, weil sie als Sprachrohr für die Gesetze der Väter angesehen wurden. Woran wir uns am meisten abgearbeitet haben, war natürlich die Mutter-Tochter-Beziehung. Wir entdeckten damals, dass die gewalttätigste Enteignung, die Frauen erlitten hatten, darin bestand, dass sie als „Personen” ausgelöscht wurden, also auf ihren Körper und die damit verbundenen erotischen oder mütterlichen „Funktionen” reduziert wurden. 

Wir hätten zu diesem Zeitpunkt hinter die Fassade des Häuslichen schauen müssen, um  Paar- und Familienbeziehungen in ihrer ganzen Komplexität hinterfragen zu können. Wir hätten die Gewalt in ihren "offensichtlichen" Formen offenlegen müssen: Misshandlung, Ausbeutung, Frauenmord. Dass wir uns erst viel später, Anfang der 2000er-Jahre, mit häuslicher Gewalt befasst haben, liegt daran, dass Liebe sie verschleiert hat; diese Gewalt quasi unter dem Deckmantel angeblicher Liebe stattgefunden hat. Selbst ich habe sie nicht gesehen, obwohl ich Gewalt gegen Frauen jahrelang in meiner eigenen Familie miterlebt habe. Heute, angesichts der nicht abreißenden Frauenmorde, ist es leicht, das „Monster” zu bekämpfen und eine Verschärfung der Strafen zu fordern. Wir müssen uns jetzt überlegen, ob diese mit Macht verwechselte Liebe, die sich über Generationen vererbt hat, nicht infrage gestellt werden muss. Es ist kein Zufall, dass Liebe auch für den Feminismus ein „Tabu” geblieben ist.

Männer, die ihre Frauen umbringen (oder misshandeln), obwohl sie sie lieben, wurden in Italien vor kurzem als “gesunde Kinder des Patriarchats” bezeichnet Wie kann das sein? Und wie erklären Sie sich, dass es auch in „normalen” oder „glücklichen” Beziehungen etablierte Gewalt und Kontrolle gibt? 

Nach einem halben Jahrhundert feministischer Theorien und Praktiken beginnen wir erst heute, das Patriarchat als „strukturelles Phänomen” wahrzunehmen. Es ist ein großer Fortschritt, Frauenmorde nicht mehr als „Einzelfälle” oder eine Form individueller Pathologie darzustellen, die vor allem in rückständigen Kulturen ein Problem darstellen. Aber bis zur Erkenntnis, dass „manifeste” Gewalt nur die Spitze des Eisbergs einer weitverbreiteten und als „normal” empfundenen Gewaltkultur ist, haben wir noch einen langen Weg vor uns. 

Ich habe klare Begriffe wie „männliche Dominanz” oder „Sexismus” dem des „Patriarchats” stets vorgezogen, vielleicht weil ich Schwierigkeiten habe mit der Ambiguität dieser Macht, die sowohl das Gesicht eines zärtlichen Sohnes als auch das eines herrischen Vaters haben kann. Wenn Männer nur das siegreiche und selbstbewusste Geschlecht wären, hätten sie keinen Grund zu töten; wenn Frauen in dem Mann, der ihr Leben bedroht, nur einen Mörder sähen, würden sie nicht so zögern, die Gewalt anzuprangern, unter der sie leiden.


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Heute töten Männer, weil sie angesichts der Freiheit der Frau - also der Tatsache, dass Frauen nicht mehr nur Körper sind, die ihnen zur Verfügung stehe, was bisher als „natürliche” männliches Privileg galt - ihre Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit entdecken. Das „Patriarchat”, so können wir heute sagen, ist die Weltanschauung, die das Wissen und den gesunden Menschenverstand geprägt hat. Diese Weltanschauung wurde jedoch ausschließlich von einer Männergemeinschaft geprägt, die dann von den Frauen verinnerlicht wurde. Wenn sie zur „Normalität” geworden ist, dann deshalb, weil sie lange im "Privaten" und häuslichen Bereich als ein unumgängliches Naturgesetz angesehen wurde. 

Sie zitieren Die männliche Herrschaft von Bourdieu, der die Liebe als höchste, weil subtilste und unsichtbarste Form der symbolischen „Gewalt” bezeichnet.

Schon vor der Lektüre dieses Buches, das ich geliebt und rezensiert habe, obwohl es in Italien nicht die Verbreitung fand, die es verdient hätte - war Liebe in meinem persönlichen und politischen Leben ein zentrales Thema geworden. Ende der 1970er-Jahre, ein Jahrzehnt, das weitgehend dem Problem der Sexualität und der Homosexualität gewidmet war und in dem Themen wie das Selbstbewusstsein und das Unbewusste im Mittelpunkt standen, wurde mir klar, wie wichtig das Bedürfnis nach Liebe für mich war und wie sehr es, je stärker es ist, mit dem „Traum von Liebe” verbunden ist: also der Verschmelzung, der intimen Zugehörigkeit zu einem anderen Wesen. Anfang der 1980er-Jahre begann ich eine lange Psychoanalyse; ich entdeckte Sibilla Aleramos Diari di una donna und ich hatte eine "Herzpost"-Kolumne in der Jugendzeitschrift Ragazza In. Das waren die Jahre, in denen ich mit Wie der Traum von der Liebe geboren wird mein persönlichstes Buch geschrieben habe. Eigentlich hätte ich es Wie die Illusion der Liebe endet nennen sollen.

Seitdem habe ich oft über den Traum von der Liebe als „unsichtbare Gewalt” geschrieben und mich gefragt, ob dieser Traum eine Stärke oder eine Schwäche der Frauen ist und ob ihre tief verinnerlichte „Sklaverei” nicht gerade in dem Wunsch verwurzelt ist, sich für den anderen unentbehrlich und ihm das Leben „schön" zu machen. Bourdieus Verdienst besteht darin, die Konstruktion des männlichen und des weiblichen Geschlechts innerhalb sogenannter „Permanenzen”, die in den unterschiedlichsten historischen und politischen Kontexten zu finden sind, eingehend analysiert zu haben und zu erkennen, dass die männliche Herrschaft sowohl eine Kolonisierung des Geistes wie des Körpers war. Auch und insbesondere die Ambiguität des Traums von der Liebe hat er infrage gestellt. Im letzten Kapitel des Buches stellt Bourdieu die Frage, ob die Liebe als Verschmelzung, als Verlust des Selbst im Anderen, ein „Waffenstillstand”, also eine „Oase” im Krieg zwischen den Geschlechtern sei oder die höchste Form der Gewalt, weil sie die unsichtbarste und daher heimtückischste „symbolische Gewalt” ist. Er war zu dem gleichen  Schluss gekommen, wie ich auf meinem feministischen Weg, und dass es ein Mann war, der dies erkannte, konnte mich nur freuen. 

Können wir heute anders über Liebe sprechen?

Ich denke, dass sich Alternativen erst dann abzeichnen, wenn man das Böse gründlich analysiert hat, und was die perverse Verflechtung von Liebe und Gewalt betrifft, haben wir noch einen langen Weg vor uns. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Buch von bell hooks, Alles über Liebe – Neue Sichtweisen sehr interessant, sowie die Essais De l’intime. Loin du bruyant Amour und Près d'elle, Présence opaque : présence intime von François Jullien

Was hat sich in den letzten Jahren nach #MeToo und den jüngsten Frauenmorden geändert? Als wir miteinander telefonierten, war die Debatte über den Mord an Giulia Cecchettin noch frisch und sie sagten damals: „Ich lese in den Zeitungen jetzt die Reden, die wir Feministinnen seit Jahren halten”. Was war geschehen? 

Mehr noch als die #MeToo-Bewegung, die zu einem Prozess in den Medien gegen bekannte Persönlichkeiten zu werden drohte - hat die jüngste Welle des Feminismus, die in den frühen 2000er-Jahren begann, eine große Veränderung bewirkt. In Italien gab es 2007 die erste große Demonstration, zu der die Gruppe „Sommosse” aufgerufen hatte und auf der erstmals Transparente gegen häusliche Gewalt zu sehen waren und der Slogan „Der Mörder hat die Schlüssel zum Haus” geboren wurde.  

Diese Generation blickte hinter die Kulissen des Privatlebens und konzentrierte sich auf intime Beziehungen, in denen bisher verdeckte Gewalt, die es schon immer gegeben hatte, nun eindeutig zum Vorschein kam. Die weltweiten Berichte über die immer öfter vorkommenden Frauenmorde spielten eine große Rolle dabei, das Thema Sexismus zum Politikum zu machen. Wichtig war auch die Entstehung des Netzwerks Ni una menos im Jahr 2017, das in Argentinien seinen Anfang nahm. Seitdem finden jedes Jahr am 8. März und am 25. November große Demonstrationen statt, die jedoch bisher nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten haben.

Neu an dieser jüngsten feministischen „Welle” war für mich die Ausweitung des Diskurses auf alle Formen von Herrschaft: Sexismus, Klassismus, Rassismus, Kolonialismus usw. Die radikalen Forderungen des Feminismus der 1970er-Jahre, als es hieß, „das Selbst und die Welt verändern”, wurden wieder laut. Die Herausforderung bestand darin, von dem Ort auszugehen, der am weitesten von der Politik entfernt war, nämlich von dem Selbst und der persönlichen Erfahrung, um die Gewissheiten und die reaktionären Kräfte des öffentlichen Lebens „umzustürzen”.

Der unerwartete Fortschritt im historischen Bewusstsein und die zeitgleiche Anerkennung des Erbes eines halben Jahrhunderts Feminismus, erfolgte in Italien durch den Tod der Studentin Giulia Cecchettin, die am 11. November 2023 von ihrem Ex-Freund ermordet wurde. Es waren die Worte ihrer Schwester Elena und ihres Vaters Gino Cecchettin, welche eine unerwartete Bresche in die italienische Kultur geschlagen haben, die wie auch anderswo noch immer von Männern dominiert wird. 

Die Geschichte dieses Frauenmordes (schon wieder einer!), der nicht wie sonst von der Familie verschwiegen und so von einer privaten zur öffentlichen Angelegenheit wurde, machte Stimmen laut, die bis dahin nur von Feministinnen zu hören waren. Dafür brauchte es offensichtlich einen „Vater”, der in der Lage war, über seine Vaterrolle hinauszublicken und sich als „Mann” unter Männern zu verstehen, also als Teil einer virilen Kultur, die auch Männer heute dazu zwingt, sich selbst angesichts der Gewalt gegen Frauen infrage zu stellen. Erst dieser Vater konnte an der Figur des Patriarchen rütteln, auf die manche noch immer mit unverhohlenem Bedauern zurückblicken. 

Dieser Vater und seine Tochter haben es geschafft, traditionelle Familienrollen und die „Normalität” infrage zu stellen, die aus atavistischen Vorurteilen besteht und in der Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen als Privatsache abgetan und als etwas Natürliches betrachtet wurden. Die Worte von Giulias Schwester waren ein Wendepunkt, seitdem es kein Zurück mehr gibt. 

Worte, die über Generationen von Feministinnen hinweg benutzt wurden, die nun aber zum ersten Mal eine breite Öffentlichkeit erreicht haben und dort schlagkräftige Wirkung hatten. 

„Ein Monster”, sagte Elena, „ist eine Ausnahme, eine Person, für die die Gesellschaft keine Verantwortung übernehmen muss. Aber Männer, die ihre Frauen umbringen, sind nicht krank, sie sind ganz normale und gesunde Kinder des Patriarchats und der Vergewaltigungskultur. Femizid ist kein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern eines, das aus Machtwillen geschieht. Wir brauchen eine neue sexuelle Erziehung, in der allen klargemacht wird, dass Liebe kein Besitz ist.”

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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