Aber wir sind doch eine Familie

Der NSA-Skandal ist ein Vertrauensbruch zwischen der EU und den USA. Doch ein langes Zerwürfnis würde Wladimir Putin in die Hände arbeiten. Deshalb muss die EU weiter über ihr Freihandelsabkommen verhandeln und ihre Bindungen zu den USA neu definieren, meint ein polnischer Kolumnist.

Veröffentlicht am 4 November 2013 um 17:16

Der deutschen Presse zufolge sorgte der russische Präsident, als der Abhörskandal anfing abzuebben, dafür, dass auch wirklich jeder in Europa davon erfuhr, wie die Amerikaner Angela Merkels Mobiltelefon abgehört hatten. Nachdem sich diese Aufregung dann gelegt hatte, reiste ein Mitglied der deutschen Grünen unerwartet nach Moskau, um dort mit Edward Snowden zusammenzutreffen. Die Medien legten sofort wieder den Schnellgang ein – und es ist ganz klar, dass dieses Treffen ohne die Erlaubnis des Kreml nicht stattgefunden hätte.

Die deutsch-russischen Beziehungen sind heute auf dem tiefsten Punkt seit dem Sturz der Berliner Mauer. Zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ist die Lage auch nicht besser. Indem es einen Keil zwischen die beiden Verbündeten treibt, erringt Moskau einen wichtigen Sieg – und dies nicht nur in geopolitischer Hinsicht. Der russische Präsident kann seinem Volk nun zeigen, wie tief der niederträchtige Westen gesunken ist. Diesmal ist er allerdings zu weit gegangen, denn niemand hegt noch die geringsten Zweifel daran, dass der Whistleblower der NSA zur Marionette des Kremls geworden ist. Für die führenden Politiker in Europa und in Washington ist dies das Signal: Es ist Zeit, die Scharte auszuwetzen.

Alles und jeden ausspionieren

Doch es ist schon zu spät, denn Snowden wurde ja nicht etwa von Anfang an von Russland eingeschleust. Er wurde von der National Security Agency geformt, die wiederum von dem Gedanken besessen ist, alles und jeden auszuspionieren. Schlimmer noch, die NSA gab Snowden Zugang zu ihren Geheimnissen und dieser nutzte das aus, bevor er via Hongkong nach Russland floh. Niemand weiß, welche anderen kompromittierenden Beweise er noch aus dem Ärmel schütteln kann und wie lange noch Enthüllungen auftauchen und das Weiße Haus in Verlegenheit bringen werden.

[[Es kann nicht geleugnet werden, dass es in den Reaktionen der EU auf die Snowdon-Affäre viel Heuchelei gegeben hat]]. Schließlich sitzen die europäischen Geheimdienste ja nicht untätig herum und sehen dabei zu, wie die NSA ins Internet eindringt, sondern sie tun genau dasselbe, mit ähnlichen Mitteln. Zudem koordinieren sie ihre Bemühungen und beraten sich gegenseitig, wie sie die EU-Gesetze gegen illegale Überwachungen umgehen können. Außerdem spionieren die Europäer – wenn auch in kleinerem Maßstab – die Amerikaner ebenfalls aus und versuchen, ihre Geheimnisse zu stehlen. Genau deshalb sollte dem ein Ende gesetzt werden.

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Washington, Berlin und Paris verhandeln über Abkommen, um einer gegenseitigen Bespitzelung vorzubeugen. Doch das reicht nicht. Ein allgemeines Abkommen ist nötig, damit alle EU-Bürger – nicht nur die aus den größten Mitgliedsstaaten – vor unziemlicher Überwachung geschützt sind. Das Weiße Haus wird die Frage mit den kleineren Ländern wohl kaum so verhandeln wie mit Frankreich und Deutschland. Statt dessen wird es wahrscheinlich amerikanische Spione aus Berlin und Paris in eben diese Länder abziehen, damit sie dort weiter arbeiten.

Strengere Gesetze sind nötig

Darüber hinaus braucht die EU strengere Gesetze zum Schutz persönlicher Daten. Diese Gesetze sollten 2014 in Kraft treten, doch der Termin wurde um ein Jahr verschoben, unter anderem unter Druck aus Berlin. Deshalb klang Angela Merkel so bedeutungslos, als sie die Amerikaner wegen der Abhörung ihres Telefons kritisierte.

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Den Bürgern ein Recht auf Datenschutz zu garantieren, bedeutet nicht, dass Europa den Kampf gegen den Terrorismus aufgibt und Amerika dazu zwingen will, dasselbe zu tun. [[Die EU-Geheimdienste haben das Recht, Verdächtige zu überwachen, nur muss dies im Rahmen der Legalität erfolgen]]: Jeder Fall muss von einem Gericht genehmigt werden, Beweise müssen nach Abbruch der Überwachung vernichtet werden und so weiter. Wenn wir Edward Snowden glauben sollen, dass ein „Konsortium“ von EU-Geheimdiensten unsere E-Mails und Telefonate ohnehin überwacht, dann begrenzen wir besser die Umsetzung dieser Prinzipien. Und kontrollieren sie besser als es die US-Regierung getan hat – war es Präsident Obama doch gar nicht bewusst, dass die NSA bei den Telefongesprächen der Bundeskanzlerin mithörte.

„Transatlantische Bindungen”

Zu guter Letzt bieten die Abhörungsskandale eine Gelegenheit, das zu erneuern, was wir „transatlantische Bindungen“ nennen, einen Ausdruck, der seit einiger Zeit wie ein Anachronismus aus dem Kalten Krieg zu klingen begann. Europa – das „neue“ sogar noch mehr als das „alte“ – erwartet von Amerika, dass es ihm im (wenn auch unwahrscheinlichen) Fall eines Angriffs aus dem Osten hilft. Amerikanische Sicherheitsgarantien für NATO-Mitglieder dürfen nicht zurückgezogen werden. Doch man muss sie mit neuem Inhalt anfüllen. Europa und Amerika müssen neue Bereiche finden, in welchen sie enger zusammenarbeiten. Während Präsident Obamas Amtszeit hat sich die Distanz zwischen den beiden Ländern vergrößert.

Das vorgeschlagene TAFTA-Abkommen [auch bekannt als TTIP] bietet eine beispiellose Chance für eine Annäherung zwischen EU und USA. Leider wurden die Verhandlungen vom ersten Tag an von Snowdens Enthüllungen überschattet. In Europa fordern viele, man solle die Gespräche unterbrechen oder sogar ganz einstellen. Solch ein Szenario wäre eine begrüßenswerte Nachricht nicht nur für Moskau, sondern auch für Peking. Deshalb müssen die europäischen Spitzenpolitiker das Grundsatzprinzip hinter dem TAFTA verteidigen – selbst wenn ihre Handys von NSA-Spezialisten abgehört wurden.

Barack Obama hat die Hoffnungen, die man in Europa auf ihn setzte, nicht erfüllt. Die US-Geheimdienste haben die europäischen Länder wie Kolonien behandelt. Wir haben guten Grund, Groll gegen Amerika zu hegen – doch dürfen wir die gemeinsamen Gespräche nicht unterbrechen. Schließlich gehören wir zur selben Familie.

Aus deutscher Sicht

Der Spiegel macht sie für Snowden stark

„Asyl für Snowden“, verlangt Der Spiegel, denn „wer die Wahrheit ausspricht, begeht kein Verbrechen“. 51 Persönlichkeiten, darunter zahlreiche Politiker verschiedener Parteien, Intellektuelle und Sportler den Umfang der Spionage durch die Vereinigten Staaten weltweit an den Tag gebracht, insbesondere auf den Seiten der Hamburger Wochenzeitung.

Snowden, der heute mit einem bis Sommer 2014 befristeten Bleiberecht in Russland lebt, ist bereit, über die Bespitzelung in Deutschland auszusagen, verlangt aber, dass Berlin ihn dafür nicht an die USA ausliefert. „Die Bundesregierung sitzt in der Klemme“, konstatiert Der Spiegel:

Für seine Aussage möchte der Whistleblower Schutz, der aber würde zu einer Verstimmung auf Seiten der USA führen.

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