Analyse Zivilgesellschaft und Rechtsextremismus | Deutschland

Ein massives, wenn auch spätes Erwachen des demokratischen Gewissens und Handelns in Deutschland

Ein beispielloser Elan gegen Rechtsextremismus brachte Millionen von Deutschen dazu, auf die Straße zu gehen. Die unerwartete, landesweite Protestbewegung hat es auf die AfD abgesehen, konnte ihre Grundfesten bisher jedoch noch nicht erschüttern. Doch die politische Landschaft in Deutschland scheint sich bereits zu wandeln.

Veröffentlicht am 19 Mai 2024 um 13:14

Anfang 2024 wurde die radikale Rechte in Deutschland und ihre politische Speerspitze, die Alternative für Deutschland (AfD), von einer ebenso massiven wie unerwarteten Volksbewegung kalt erwischt. Ab Mitte Januar gingen Millionen Menschen im ganzen Land jedes Wochenende in den großen und kleinen Städten auf die Straße, um friedlich gegen die fremdenfeindliche Rhetorik und die antidemokratischen Ziele der AfD zu protestieren. Die Bewegung ist weiterhin aktiv, wenn auch mit geringerer Intensität.

Auslöser für die Proteste war der Skandal des berüchtigten „Potsdamer Treffens“. Das am 10. Januar von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckte Geheimtreffen, das im November 2023 in der Nähe von Berlin stattfand, brachte Personen zusammen, die zunächst wenig miteinander zu tun hatten: Mitglieder der CDU, Abgeordnete und Vertreter der AfD, ein Nachkomme der Familie von Bismarck, einige wohlhabende Bürger, aber auch Neonazis und Identitäre. Martin Sellner, Hauptredner bei dem Treffen und Chef der österreichischen Identitären Bewegung, erläuterte einen „Remigrationsplan“, der die Massenabschiebung von zwei Millionen Ausländern aus Deutschland nach Nordafrika vorsah. Auch die Auswanderung „schlecht angepasster“ und problematischer deutscher Staatsbürger war geplant.


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„Die Idee der ‚Remigration‘ existiert schon länger. Sie ist in Kreisen, die sich mit dem Rechtsextremismus beschäftigen, wohlbekannt, hat aber bisher wenig Aufmerksamkeit erregt. Wir waren daher von der starken Reaktion der Bevölkerung überrascht“, erinnert sich Lorenz Blumenthaler, Forscher und Sprecher der Antonio Amadeu Stiftung (AAS), einer wichtigen NGO für den Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Die Gründe für diese überwältigende Resonanz sind vielfältig: einerseits die Aufdeckung der politischen Seilschaften, andererseits auch der verschwörerische Charakter des Treffens, das einen sehr konkreten und sehr verfassungsfeindlichen Aktionsplan vorschlug.

„Mir war schon lange klar, dass in Teilen der AfD rassistische und nationalistische Diskurse geführt werden. Aber dass man plötzlich erfährt, dass sie sich mit Leuten treffen, die über erhebliche finanzielle Mittel verfügen und über Pläne zur Massenabschiebung von Ausländern sprechen! Das ist unheimlich. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, erklärte die Berlinerin Wiebke Brenner am 3. Februar bei einer Großdemo in der Hauptstadt.

Die Demonstrationen wandten sich lautstark gegen die Brandrede der AfD, Deutschland stünde am Rande des wirtschaftlichen Ruins und des identitären Zerfalls. Damit sorgten die Proteste für Verluste der AfD in den Umfragen. Ab Februar ging die Zustimmung für die AfD in allen Umfragen aller Institute zurück. Sie fielen auf rund 16–19 % ab, nachdem sie zuvor auf nationaler Ebene bei 24 % lagen. Auch in Bundesländern wie Sachsen, Thüringen und Brandenburg, in denen die AfD stark vertreten ist, ist der Rückgang sichtbar, obwohl die AfD dort noch immer auf rund 30 % kommt.

„Die erste Lehre ist, dass man in kurzer Zeit wirklich viele Menschen mobilisieren kann. Das waren die größten Proteste seit den Klimademonstrationen. Außerdem gab es eine breite Mobilisierung der älteren Menschen, die sich zuvor seltener gegen Rechtsextremismus engagierten. Und schließlich fanden die Kundgebungen überall im Land statt, auch in kleinen Städten im Osten, wo die politische Rechte stark ist und es ziemlich viel Mut braucht, um sich ihr in den Weg zu stellen“, analysiert Blumenthaler.

Eine zentrale Rolle spielte dabei die Klimabewegung Fridays for Future, die zusammen mit der NGO Campact Hauptorganisatorin war. Dank ihrer Präsenz in den sozialen Netzwerken, ihrer landesweiten Verbreitung und ihrer Fähigkeit, schnell mit lokalen Akteuren zu kooperieren, konnten die Proteste zu einer so großen Bewegung werden. „Das hat vielen Aktivisten gezeigt, dass die jahrelange Arbeit an der Basis keine verlorene Mühe ist – und vielen Nicht-Aktivisten, wie viel Engagement bewirken kann“, fügt Pit Terjung, einer der Sprecher, hinzu. Von der Antonio Amadeu Stiftung bis zu den „Omas gegen Rechts“ bemerkten alle eine verstärkte Handlungsbereitschaft und Zuspruch.

Lorenz Blumenthaler fügt hinzu: „Die Bewegung hat Bündnisse geschaffen und viele kleinere demokratische Mechanismen in Gang gebracht.“ Die deutschen Arbeitgeber, die eigentlich selten Partei ergreifen, haben zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) einen gemeinsamen Aufruf gegen Rechtsextremismus und die Strategie der Remigration veröffentlicht. Auch die Kirchen haben sich sehr klar gegen die AfD positioniert.

Die Medien sorgen für Aufklärung und recherchieren über die Funktionsmechanismen und Projekte der rechtsextremen Szene. Zu den Themen gehören auch die Stärke der AfD in den sozialen Netzwerken, insbesondere bei Tik Tok, und die Pläne der Thüringer AfD, die bei den Landtagswahlen im September stärkste Kraft werden könnte und bestimmte verfassungsrechtliche und politische Rädchen in Bewegung setzen will.

Drei Monate nach Beginn der Bewegung sind die Zahl und die Häufigkeit der Proteste auffallend zurückgegangen. Von den anfänglich mehreren hunderttausend Demonstranten pro Wochenende sind noch einige zehntausend übrig geblieben: „Das ist nicht verwunderlich. Um länger bestehen zu können, bräuchte man ein gemeinsames Narrativ, das die Menschen dauerhaft mobilisiert, und das ist nicht der Fall. Von den klassischen politischen Parteien kam nicht viel Unterstützung, obwohl sie sich ausdrücklich hinter die Bewegung gestellt und für deren Werte ausgesprochen hatten“, meint Lorenz Blumenthaler.

Die Volksparteien SPD und CDU, die bereits die Europawahlen sowie die Regionalwahlen in drei östlichen Bundesländern vorbereiten, können sich nur schwer künftige Bündnisse gegen Rechts vorstellen. Denn es ist ein Balanceakt, sich klar von Rechtsextremen abzugrenzen, ohne jedoch die Protestwähler abzuschrecken.

Die Demonstrationen entfachten erneut die Debatte über die Überwachung der in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als „rechtsextrem“ eingestuften AfD. Und auch ein Verbotsverfahren ist aktuell wieder im Gespräch. Denn schließlich sieht die deutsche Verfassung ein Parteienverbot vor, wenn es „konkrete Anhaltspunkte“ dafür gibt, dass eine Partei die freiheitlich-demokratische Verfassungsordnung angreifen und beseitigen will.

Mit der Unterstützung von der Heinrich Böll Stiftung European Union

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