Am Tisch des Bären

Veröffentlicht am 29 November 2010 um 14:58

Wladimir Putins Plädoyerzur Gestaltung einer harmonischen Wirtschaftsgemeinschaft, die sich von Lissabon bis nach Wladiwostok erstrecken solle, trifft in Europa auf Skepsis. Der Meinung mehrere Kommentatoren zufolge handele es sich hierbei um ein reines Ablenkungsmanöver. Ein Danaergeschenk, mit dem Moskau versucht, die EU in seine Fangnetze zu locken. Keine Überraschung: In Europa reichen die Wurzeln der Russenfeindlichkeit mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück. Hinzukommt, dass die Länder Mitteleuropas (mit dem Segen der USA) sofort nach ihrem EU-Beitritt 2004 dazu beigetragen haben, die russischen Versuche, mit Frankreich und Deutschland engere Beziehungen aufzubauen, im Keim zu ersticken. Dass man den Ländern des einstigen Warschauer Paktes gegenüber misstrauisch ist, ist also mehr als verständlich.

Auch wenn der Gefühlsfaktor für die internationalen Beziehungen oft eine maßgebende Rolle spielt, entscheiden letztendlich fast immer die Wirtschaftsverhältnisse. Von diesem Gesichtspunkt aus muss Russland, dessen Rohstoffexport-Einnahmen mit der Krise wegbrachen, dringend seine Wirtschaft umstellen.

Die Zusammenarbeit mit der Union steht demnach für einen neuen Kurs, für den es strukturelle Gründe gibt. Aber nicht nur: Gegenwärtig lassen sich auch erste Einflussverluste der Energie-Oligarchen verzeichnen. Zudem verschaffen sich die Stimmen immer mehr Gehör, die die Beziehungen mit Europa normalisieren wollen. Schließlich habe man so etwas wie ein gemeinsames historisches und kulturelles Erbe. Wie es der einflussreiche Beobachter Sergei Karaganov schrieb: „In Sachen politischer und sozialer Annäherung mit Europa gibt es für Russland keinerlei Alternativen. Ohne Europa wären wir keine Russen.“ Diese Notwendigkeit hat Russland schon einmal dazu gebracht, überraschende Schritte nach vorn zu machen. Beispielsweise anlässlich des NATO-Gipfels in Lissabon und der Verurteilungder Massaker von Katyn.

Bei den Präsidentschaftswahlen von 2011werden sich mit ziemlicher Sicherheit Putin und Dmitri Medwedew gegenüberstehen. Letzterer hat die Öffnung gegenüber dem Westen zu einem der grundlegenden Prinzipien seiner Amtszeit gemacht. Unter diesem Gesichtspunkt sollte man Putins Haltung besondere Aufmerksamkeit schenken: Beide Kandidaten könnten sich die EU-Thematik zu eigen machen, anstatt sich an ihr klar zu unterscheiden. Dabei stehen nicht nur die großartigen Möglichkeiten des russischen Marktes auf dem Spiel. Perspektivisch geht es auch darum, die Rivalitäten mit dem westlichen Europa zu mindern und sie vielmehr in einen „normalen“ wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb münden zu lassen.

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Letztendlich geht es vor allem darum, zu verhindern, dass Russland sich unwiderruflich zur chinesischen Alternative hinwendet. Dass würde nämlich zur Verschiebung der weltweiten Wirtschaftsachse in Richtung Osten beitragen. Recht haben die Skeptiker, wenn sie vor dem Kleingedruckten warnen: Das Risiko, sich zu verbrennen, ist mehr als real. Jedoch führen die Unbeständigkeiten von Nord Stream und South Stream den EU-Ländern vor Augen, dass sie nicht unbeschadet davonkommen werden, wenn sie die Beziehungen mit Moskau weiterhin unilateral beschließen. Europa hat gute Karten und darf keine Angst davor haben, am Tisch des Bären zu spielen. Jedoch sollte es wissen, wie es seine eigenen Regeln durchzusetzen hat. (jh)

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