Amerika und Europa sinken gemeinsam

Sowohl die EU als auch die USA strampeln sich ab, um auf ihre jeweils eigene Art und Weise mit der Wirtschaftskrise fertig zu werden. Ein großer Irrtum, findet Gideon Rachman, da ihre Probleme mehr oder weniger dieselben sind.

Veröffentlicht am 5 Juli 2011 um 14:42

In Washington streitet man sich über eine Schuldenobergrenze, in Brüssel starrt man in einen Schuldenabgrund. Doch das Grundproblem ist dasselbe. Sowohl in den USA als auch in der Europäischen Union sind die öffentlichen Finanzen außer Kontrolle geraten und das politische System ist zu dysfunktional, um das Problem zu beheben. Amerika und Europa sitzen im selben sinkenden Boot.

In den USA und in der EU sind Debatten über die Schulden im Gange, die so nach innen gerichtet und überreizt sind, dass erstaunlich wenig Leute den Zusammenhang herstellen. Dabei sollten die Verbindungen, die das Ganze zu einer allgemeinen Krise des Westens machen, eigentlich offensichtlich sein.

Beiderseits des Atlantiks ist heute klar, dass das Wirtschaftswachstum aus den Jahre vor der Krise zum großen Teil von einem unhaltbaren, gefährlichen Boom des Kreditvolumens herrührte. In den USA standen die Hausbesitzer im Mittelpunkt der Krise, in Europa waren es ganze Länder wie Griechenland und Italien, die die niedrigen Zinssätze nutzten, um untragbare Anleihen aufzunehmen.

Der Finanzcrash von 2008 und seine Nachwehen versetzten den Staatsfinanzen einen harten Schlag, während zugleich die Staatsschulden in die Höhe schossen. Sowohl in Europa als auch in den USA verschlimmerte sich dieser einmalige Schock noch durch den demografischen Druck, der sich wiederum auf die Staatshaushalte niederschlug, als die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit begannen, in den Ruhestand zu treten.

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Und zuletzt polarisiert die Wirtschaftskrise beiderseits des Atlantiks die Politik und macht es somit sehr viel schwieriger, für das Schuldenproblem rationale Lösungen zu finden. Populistische Bewegungen sind im Aufstieg begriffen – ob die Tea Party in den USA oder die niederländische Partei für die Freiheit oder die Wahren Finnen in Europa.

Der Gedanke, dass Europa und die USA zwei Seiten derselben Krise verkörpern, dringt nur langsam durch, denn seit vielen Jahren betonen die Eliten beiderseits des Atlantiks die Unterschiede zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Modell. Ich weiß gar nicht mehr, an wie vielen Konferenzen ich in Europa teilgenommen habe, bei denen zwei verschiedene Lager debattierten: Die einen wollten "flexible Arbeitsmärkte“ im US-Stil und die anderen verteidigten glühend ein europäisches Sozialmodell, das sich von den USA abgrenzt. Um Europas politische Debatten war es ähnlich bestellt. Da wollte eine Gruppe sehen, wie Brüssel Washington nacheifert und die Hauptstadt einer Union mit echten Bundesstaaten wird, und es gab diejenigen, die darauf bestanden, die Vereinigten Staaten von Europa seien ein Ding der Unmöglichkeit. Gemeinsam war beiden Seiten die Überzeugung, die USA und Europa seien in wirtschaftlicher, politischer und strategischer Hinsicht verschiedene Planeten – "Mars und Venus“, wie es der amerikanische Wissenschaftler Robert Kagan formulierte.

Die politische Debatte in den USA verwendet immer noch die Andersartigkeit "Europas“ als Anhaltspunkt. Der Vorwurf, Barack Obama importiere "Sozialismus im europäischen Stil“ wird dazu benutzt, den Präsidenten als unamerikanisch darzustellen. Links betrachten manche Europa in der Tat als einen Ort, wo die Dinge anders und in manchen Fragen besser gehandhabt werden – so etwa die allgemeine Gesundheitsversorgung.

Dabei sind die Ähnlichkeiten im Dilemma der beiden Regionen heute auffallender als die Unterschiede – steigende Schulden, eine schwache Wirtschaft, ein zunehmend teurer und unreformierbarer Wohlfahrtsstaat, Angst vor der Zukunft und politischer Stillstand sind die Gemeinsamkeiten.

Die Bemühungen der USA, die Kosten für Sozial- und Krankenversicherung zu kontrollieren, werden den europäischen Spitzenpolitikern sehr vertraut sein, denn auch sie strengen sich an, die Ausgaben für Renten und Gesundheitsfürsorge zu kürzen. Viele Europäer glaubten, amerikanische Politiker hätten einen riesigen Vorteil, weil sie in einem wirklich föderalen System arbeiten. Manche behaupten immer noch, dass der einzige Weg zur Stabilisierung des Euro langfristig eine Annäherung an einen auf dem Modell der USA beruhenden "finanzpolitischen Föderalismus“ ist. Im Moment jedoch ist die Politik in Washington sogar noch funktionsgestörter als die in Brüssel. Die scheinbare Unmöglichkeit, eine ernsthafte Debatte über Schulden und Ausgaben zu führen (ganz zu schweigen von einer tatsächlichen Lösung des Problems) macht die Idee, dass das politische System der USA ein Vorbild für Europa sein sollte, lachhaft.

Es gibt natürlich immer noch ausgeprägte Unterschiede in den Debatten beiderseits des Atlantiks. Der Dollar hat einen stabilen, glaubwürdigen Werdegang hinter sich. Der Euro ist erst seit einem guten Jahrzehnt im Umlauf. Die politische Spaltung, die vor allem für die Lähmung des europäischen Systems verantwortlich ist, besteht zwischen ganzen Nationen. Es gibt in den USA keine Parallele zur bitteren Kluft zwischen den Griechen und den Deutschen. In Europa ist das Konzept, dass Steuererhöhungen ein Teil der Lösung für die in die Höhe schießenden Schulden sein könnten, nicht umstritten. In Amerika steht die Opposition der Republikaner gegen den bloßen Gedanken an eine Steuererhöhung im Mittelpunkt des politischen Streits.

Fixiert auf ihre eigenen Probleme und ihre Unterschiede, erkennen die Amerikaner und die Europäer nur langsam die Verbindung zwischen ihren Zwillingskrisen. Doch die Analytiker in allen anderen Teilen der Welt können den gemeinsamen Trend wahrscheinlich leichter sehen. Bei chinesischen Führungskräften und Intellektuellen ist es heute üblich, darauf hinzuweisen, dass die Westländer aller Art aufhören sollten, "China Lektionen erteilen“ zu wollen – angesichts der Ausmaße ihrer eigenen politischen und wirtschaftlichen Probleme.

Chinesische Kritiker des Westens sehen die Zwangslagen von Europa und den USA mit der grausamen Klarheit, die ihnen die Distanz bietet. Durch ihren Stolz und ihr Selbstvertrauen riskieren sie jedoch zu beschönigen, wie sehr der Aufstieg Chinas, Indiens und der anderen von einem prosperierenden und zuversichtlichen Westen abhängig ist. Sollten sich die Krankheiten des Westens noch verschlimmern, dann wird die Versuchung bestehen, neue und radikalere Heilmittel auszuprobieren. Dazu könnte auch ein Drang nach Protektionismus und Kapitalkontrolle gehören. Falls die Globalisierung den Rückwärtsgang einlegt, könnte China sehr wohl seine eigene wirtschaftliche und politische Krise erleben.

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