Ideen Brief zur Demokratie | 1

Ein Brief über die Zukunft unseres Kontinents an meine europäischen Mitstreiter*innen

Am Vorabend des Amsterdam Forum on European Culture gibt der niederländische Schriftsteller Arnon Grunberg in diesem Brief an eine Gruppe von Schriftstellerkolleg*innen den Anstoß zu einem Gespräch über Europa und die Demokratie und darüber, wie empfindlich beide sind.

Veröffentlicht auf 29 Mai 2023 um 16:35

Liebe Kolleg*innen Lana Bastašić, Kamel Daoud, Drago Jančar, Oksana Sabuschko,

ich finde es surreal und aufregend, einen Brief über Europa an vier Personen zu schreiben, die ich überhaupt nicht persönlich kenne. Nur wenige Themen verursachen so viele Missverständnisse wie Europa. Es kommt mir vor, als würde ich zum ersten Mal einen Swingerclub betreten. Europa war schon Gegenstand vieler Metaphern, warum also nicht auch diese? Ein Swingerclub.

Auf jeden Fall muss uns Europa nah am Herzen liegen – oder zumindest nah genug – denn wir haben uns alle bereit erklärt, an einem Forum über Europa und die Zukunft der Demokratie teilzunehmen. Wer jetzt leise seufzt und sich fragt: „Schon wieder?“ muss das nicht unbedingt ironisch meinen. Obwohl wir verschiedenen Altersgruppen angehören und nicht dieselben Hintergründe haben, gehe ich davon aus, dass ihr alle schon an genügend Panels teilgenommen habt, bei denen die Teilnehmer*innen im Großen und Ganzen über dieses Thema sprechen sollten.

Es ist eine Tatsache, dass die liberale Demokratie empfindlich ist. Möglicherweise ist sie heute sogar etwas empfindlicher als noch, sagen wir 1990, aber empfindlich war sie schon immer. Die Antwort auf die Frage, wie gefährdet und empfindlich die liberale Demokratie ist, hängt immer auch von Zeit und Ort ab. Ich sage das als zurückhaltender Universalist.

Schließlich waren die frühen neunziger Jahre auch die Zeit des Krieges in Jugoslawien, der zumindest außerhalb des ehemaligen Jugoslawiens weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden ist. In Sarajevo muss man 1993 die Empfindlichkeit der Demokratie anders wahrgenommen haben als in Paris, London oder Mailand.

Susan Sontag in Sarajevo

Wie ihr alle wisst, ging Susan Sontag 1993 in das damals belagerte Sarajevo, um Warten auf Godot zu drehen. Sie schrieb, dass sie bereits vorher in Sarajevo gewesen sei und dass die Menschen dort ihr gesagt hätten: „Wir gehören zu Europa. Wir sind die Menschen im ehemaligen Jugoslawien, die für europäische Werte stehen: Laizismus, religiöse Toleranz und Multiethnizität. Wie kann das übrige Europa zulassen, dass uns das passiert?“

Sontag hatte geantwortet: „Europa ist und war neben einem Ort der Zivilisation auch schon immer ein Ort der Barbarei“ Leider „wollten sie das nicht wahrhaben. Jetzt, ein paar Monate später, würde niemand mehr eine solche Aussage bestreiten.“

Der deutsche Philosoph Theodor Adorno stellte fest, dass die Barbarei untrennbar mit dem Prinzip der Zivilisation verbunden ist. Wir können darüber diskutieren, was Adorno damit genau meinte. Wir können aber auch einfach zu dem Schluss kommen, dass alle Zivilisationen Barbaren brauchen, sei es vor den Toren oder innerhalb ihrer Gemeinschaft, um sich von den noch Unzivilisierten abzuheben.

Ich bin keineswegs ein überzeugter Konservativer, aber ich bezweifle, dass wir Menschen ohne Feind leben können, dass es möglich ist, ohne wirkliche Feinde oder Fantasien über vermeintliche Feinde eine kollektive Identität zu bilden.

Ich frage mich auch, ob wir dreißig Jahre nach Sontags Reise nach Sarajevo immer noch behaupten können, dass Laizität, religiöse Toleranz und Multiethnizität europäische Werte sind. Wenn nicht, würde ich vorschlagen, dass wir nicht zu lange lamentieren. Auch wenn die Realität unsere Erwartungen nicht erfüllt und Europa uns vielleicht enttäuscht hat – lasst uns weitermachen.

Die Enttäuschung über die Gegenwart ist ebenso verbreitet wie die Verherrlichung einer fast immer mythischen Vergangenheit. Die Kehrseite dieser Medaille ist die Tendenz, die Vergangenheit, vorzugsweise die eigene Vergangenheit, als eine Reihe von Verbrechen und Vergehen zu betrachten, die es zu verfolgen gilt. Ich bin sehr für eine möglichst akribische und unvoreingenommene historische Analyse – wer wäre das nicht? Natürlich ist eine neutrale Analyse der Vergangenheit nicht möglich, aber trotzdem.

Die Tendenz, Geschichte als ein Strafverfolgungsmanöver zu betrachten, steht Verständnis und Analyse im Weg. Manchmal kommen wir nicht umhin, die Vergangenheit zu belangen, um einen Zustand in der Gegenwart zu korrigieren. Ich will keineswegs abstreiten, dass es Opfer und Täter gibt. Allerdings ist klar, dass manche Handlungen in einer Grauzone liegen, in der die Moral und die von Menschen getroffenen Entscheidungen nicht immer eindeutig sind.

Die Esel in Europa

Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich unter den extremen Bedingungen von Krieg oder Verfolgung verhalten würde. Seit ich zu dem Schluss gekommen bin, dass ich ein durchschnittlicher Sünder bin – ich bin absolut nicht religiös, aber die Worte „durchschnittlicher Sünder“ fassen die Grauzone treffend zusammen – sind meine Erwartungen an mich selbst unter solchen Umständen nicht sehr hoch.

Einer meiner Freunde sagt mir jedes Mal, wenn wir gemeinsam essen, dass ein Sünder eine Zukunft braucht und ein Heiliger eine Vergangenheit. Ich hoffe, wir sind uns einig, dass wir alle eine Zukunft brauchen. Die Frage ist nur, welche Art von Zukunft? Und für wen? Sollten wir andere Tiere in unsere Überlegungen und Pläne einbeziehen? Sind die Esel in Europa auch Europäer?


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Friedrich Schiller schrieb: „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden; / Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“. Ich verspreche, dass ich von jetzt an keine Namen mehr nennen werde. Aber können wir uns überhaupt in der Kunst der Konversation üben, ohne irgendwelche Namen zu nennen? Aus irgendeinem Grund habe ich schon immer eine Schwäche für Deutschland gehabt. Obwohl ich 1995 von Amsterdam nach New York gezogen bin, würde ich später im Leben gerne Deutscher werden, was immer das auch heißen mag oder bedeutet. Zumindest einen deutschen Pass zu besitzen. Oder verbirgt sich mehr dahinter?

Wie dem auch sei: Schillers Frage gilt auch für Europa. Deutschland hat seine Grenzen gefunden, zumindest vorläufig, aber Europa ist noch damit beschäftigt, herauszufinden, wo es endet. Die Briten wollten Europäer hors concours sein, und nun sind viele von ihnen ein wenig enttäuscht über diesen Status. Die Briten sind genug verspottet worden, und sie sind Meister der Selbstironie; Ehre, wem Ehre gebührt.

Ist Europa die Geschichte Europas? Gibt es eine gemeinsame Geschichte? Wie viel Geschichte brauchen wir, um unsere Zukunft zu gestalten? Brauchen wir eine weitere Utopie? Oder sollten wir, nachdem wir durch so viele gescheiterte Utopien trauriger und weiser geworden sind, versuchen, ein wenig Glück in der Unvollkommenheit zu finden?

Gefangene der Geschichte

Es ist nicht ratsam, ein Gefangener der Geschichte zu werden, oder ein Gefangener der Mythen und Legenden, die oft mit der historischen Erzählung verbunden sind. Wenn Konservatismus und Traditionalismus sich zu solchen Gefangenen machen lassen, nehmen ihre hässlichsten und intolerantesten Auswüchse Gestalt an.

Die Möglichkeit der Flucht ist für mich die Essenz dessen, was es bedeutet, ein Sterblicher zu sein, ein menschliches Wesen, wie auch immer man es nennen will. Flucht ist möglich, manchmal unvermeidlich; ab und zu erhält der Flüchtende Applaus, ein anderes Mal wird der Fluchtkünstler als Feigling abgestempelt, aber das ist für mich nicht so wichtig.

Wenn ich die liberale Demokratie verteidigen will – und dazu bin ich glaube ich bereit – (ob ich dafür sterben will, ist eine andere Frage), dann bedeutet das für mich, dass ich in der Lage sein muss, mit Menschen zu leben, die dieses politische System in keiner Weise bewundern.


Europa ist auch eine Sehnsucht, ein gelobtes Land in der Ferne. In dem Moment, in dem man den Fuß in das gelobte Land setzt, vergisst man seine Verheißung


Ich glaube nicht, dass man aus Anstand bereit sein muss, die liberale Demokratie zu verteidigen. Das wäre völlig einfallslos und hätte nichts mit Freiheit zu tun. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir von der gleichen Sache sprechen, wenn wir die Worte „liberale Demokratie“ verwenden.

Ich halte es für hochmütig, davon auszugehen, dass wir, weil wir Schriftsteller*innen sind – um eine unserer kleineren Gemeinsamkeiten zu nennen – die gleichen Meinungen vertreten müssen, dass wir über eine Reihe von Überzeugungen verfügen müssen, die uns verbinden.

Mit Menschen leben, die mich umbringen wollen

Für mich setzt liberale Demokratie voraus, dass ich mit Menschen zusammenleben kann, die sich für Dinge einsetzen, die ich verachte, dass ich sogar mit ihnen am selben Tisch essen kann. Etwas übertrieben ausgedrückt bedeutet dies, dass ich mit Menschen zusammenleben kann, die mich umbringen wollen.

Solange sie das nicht wirklich tun, habe ich kein besonderes Problem mit ihren Wünschen. Vorausgesetzt, sie respektieren das Gesetz, haben sie ein Recht auf ihre Fantasien und ihre Hobbys. Das ist für mich ein weiteres Merkmal der liberalen Demokratie, dass ich mich durch das Gesetz geschützt fühlen kann, dass es nicht notwendig ist, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen oder Polizisten, Richter und Staatsanwälte zu bestechen.

Ich kann auch mit Menschen zusammenleben, die politische Ideale haben, die ich für gefährlich, abstoßend und wahrscheinlich unmoralisch halte. Keine zentrale Autorität schreibt uns vor, was wir denken sollten und was nicht, wen wir bewundern sollten und wen nicht, wem wir glauben sollten und wem nicht. So sieht das System aus, von dem ich spreche.

Als ich nach New York zog, wurde ich zum Europäer. Es ist wahrscheinlich einfacher, ein Europäer zu sein, wenn man nicht in Europa lebt.

Europa ist auch eine Sehnsucht, ein gelobtes Land in der Ferne. In dem Moment, in dem man den Fuß in das gelobte Land setzt, vergisst man seine Verheißung.

Natürlich gibt es zu viele Versuchungen. Die dunkle Seite existiert. Ein Philosoph – ich habe versprochen, keine Namen mehr zu nennen – sagte, dass die Freiheit unheimlich ist.

Aber Versuchung ist nicht dasselbe wie eine Behörde mit einem Geheimdienst und einer Armee, die ihren Bürgern eine Reihe von Überzeugungen aufzwingt. Auch wenn wir unter dem Joch der Kommerzialisierung leben – ach ja: Hat der Roman eine wirtschaftliche Zukunft, oder sollten wir das Geld ein für alle Mal aus der Gleichung streichen, so dass der Künstler nur noch einen wohlhabenden Mäzen braucht? – ist das doch nicht dasselbe wie ein brutales Regime. Man denke nur an den Iran.

Wenn ich mich für einen Missionar hielte, dessen Aufgabe es ist, andere zu meinem Glauben, meiner Weltanschauung, meinen Kämpfen und meinen Vorstellungen von Gerechtigkeit zu bekehren, würde ich die Freiheit nicht ernst nehmen. Ein Romanautor mag eine Weltanschauung haben (wahrscheinlich hat er sie), und er benutzt seine Weltanschauung oft, um die Leser zu verführen, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Das ist aber nicht dasselbe wie der Akt der aktiven Bekehrung.

Romanautoren brüskieren

Was mich an so vielen Diskussionen mit meinen Zeitgenossen und einigen meiner besten Freunde stört, ist, dass sie nicht anders können als andere Menschen bekehren zu wollen. Das Richtige tun. Das Richtige glauben. Das Richtige sagen. Ich bin kein Romanautor geworden, um das Leben oder das intellektuelle Leben eines Pfadfinders zu leben.

Ist Europa mehr als nur Geografie? Wenn das der Fall ist, worin besteht dann dieses „mehr“? Können wir uns auf Werte einigen, ohne sie so allgemein zu halten, dass man direkt merkt: Sie wurden formuliert, um niemanden zu verletzen?

Es gehörte schon immer zu den Funktionen von Romanautoren, Menschen zu brüskieren, aber nicht nur um des Brüskierens willen.

Ich erwarte von einem Romanautor, dass er sich stark darum bemüht, so ehrlich wie möglich zu sein. Ehrlichkeit und Gefälligkeit sind aber nicht immer gut miteinander vereinbar.

Einerseits würde ich gerne gefallen, denn ich möchte auch als Teilzeit-Charmeur in Erinnerung bleiben – aber andererseits möchte ich keinen Verrat an unserem Beruf begehen.

Wenn das, was wir zu sagen haben, den Menschen, die uns eingeladen haben, die uns bezahlen, unseren Lesern, nicht gefällt, können wir uns im schlimmsten Fall immer noch entschuldigen.

Ich freue mich darauf, euch in Amsterdam zu sehen und wünsche euch alles Gute.

Arnon Grunberg

Dieser Brief gehört zu den „Letters on Democracy“, einem Projekt im Rahmen des 4. Forum on European Culture, das im Juni 2023 in Amsterdam stattfindet. Das von De Balie organisierte Forum konzentriert sich auf die Bedeutung und die Zukunft der Demokratie in Europa und bringt Künstler, Aktivisten und Intellektuelle zusammen, um die Demokratie als Ausdruck der Kultur und nicht der Politik zu erkunden.
Im Rahmen der „Letters on Democracy“ entwerfen fünf Schriftsteller in einer Reihe von fünf Briefen, deren erster von Arnon Grunberg stammt, Visionen für die Zukunft Europas. Die Schriftsteller Arnon Grunberg, Drago Jančar, Lana Bastašić, Oksana Sabuschko und Kamel Daoud treffen sich während des Forums zu einem Gespräch über das Europa, das vor uns liegt, und die Rolle des Schriftstellers darin.

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