Voxeurop community Joachim Gauck

Auslese: Der deutsche Obama oder die Geburt eines Technokraten

Veröffentlicht am 16 März 2012 um 10:21

Weiterhin beschäftigt sich die europäische Presse mit der Kandidatur Joachim Gaucks zum Amt des Bundespräsidenten: was sagt die Schlacht um Wulff und die Kritik an Gauck aus über Deutschlands politische Klasse? In Großbritannien glaubt man an den Niedergang der deutschen Demokratie während die französischen Kollegen sich bereits auf eine spannende Präsidentschaft freuen.

Wie erschaffe ich mir einen Technokraten? Ganz einfach, meint das britische Online-Magazin Spiked. Man schaue nach Deutschland und beobachte die Vorbereitungen zur Wahl des neuen Bundespräsidenten. Der kommende Amtsinhaber mag an persönliche Freiheit glauben - seine parlamentarischen Kollegen tun dies offenbar nicht. Noch nicht einmal im Amt, zieht die Opposition frühere Äußerungen des Kandidaten aus der Schublade, die als „politisch unkorrekt“ erachtet werden. „Einige Abgeordnete scheinen einem früheren Kämpfer für Bürgerrechte nicht zuzugestehen, seine Meinung zu äußern“, meint Spiked, und sieht die Gefahr, dass die Deutschen dem Favoriten seine privaten und politischen Freiheiten und damit sein Profil als Kandidat nehmen:

Es ist bemerkenswert, wie erfolgreich in Deutschland das Streben nach Konsens das Demokratieprinzip der Unterstützung von bestimmten Ideen ersetzt hat. [...] Genau hieran krankt die politische Kultur in Deutschland: starke Argumente und Ideen. [...] Es ist ironisch, dass Gauck, der für demokratische Werte, politische Unabhängigkeit und das Recht der freien Meinungsäußerung steht, durch die politische Elite zu einem lebendigen Symbol des Niedergangs der demokratischen Kultur gemacht werden soll.

(Spiked-Online, London, 14. März)

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Für den Kollegen von der französischen Le Monde beweisen die Vorbereitungen zur Wahl des Bundespräsidenten vor allem, dass das Amt mehr als eine „Bussi-Bussi-Party“ ist. Gauck, so schreibt Le Monde, durchbreche mit seinem privaten und politischen Leben das Protokoll und profitiere von einer wahren „Gauckmania“ in der deutschen Bevölkerung.

Während sein Vorgänger vor allem an den materiellen Vorteilen seines Amtes interessiert zu sein schien, [...] gilt Gauck als Mensch von Überzeugungen und nicht der Macht.

Le Monde fragt sich weiter, wieso die „Pastorentochter“ Merkel, die „so viele gemeinsame Punkte mit Gauck“ verbindet, so lange gezögert hat, um diesem Kandidaten zuzustimmen.

Hat sie im vorhinein Angst vor Initiativen dieser starken Persönlichkeit, die ihr in keiner Weise verpflichtet ist? Glaubt sie, dass sie und er sich zu sehr ähneln, um ein Land zu repräsentieren? Niemand weiß es. Genauso weiß niemand, ob dieser ‚deutsche Obama‘ [...] helfen wird, das Bild der politischen Verantwortlichen zu rehabilitieren, oder, ganz im Gegenteil, es weiter schädigt, indem er sich als Inkarnation der Zivilgesellschaft gibt. Wie auch immer, die Präsidentschaft Gaucks verspricht aufregend zu werden.

(Le Monde, Paris, 6.3.)

Für die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita steht bei der Wahl des Bundespräsidenten im Vordergrund, dass Deutschland mit der Nominierung Gaucks einen Zeitenwechsel erlebe und sich endgültig von der katholischen Ära losgesagt habe:

Wir beobachten das Ende der Ära des so genannten rheinischen Katholizismus. [...] Der Protestantismus ist näher an den Zeitgenossen. Der Katholizismus betont die Rolle der Kirche, während es im Protestantismus um den einzelnen Menschen geht. [...] Unlängst haben wir die schmähliche Abdankung von Christian Wulff erlebt, einem Katholiken, der die Bedeutung der Kirche im gesellschaftlichen Leben betonte. Die Protestanten gewinnen deutlich an Einfluss in der CDU. Bundestagssprecher Norbert Lammert ist der einzige Katholik in einer prominenten Position im Staate.

(Rzeczpospolita, Warschau 15.03)

In Spanien und den Niederlanden kommentieren die Zeitungen den deutschen Machtstatus innerhalb Europas und die zu erwartenden Entwicklungen nach der scheinbaren Überwindung der Eurokrise. Der niederländische Volkskrant meint, Deutschland habe 20 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Stärke erlangt, die viele Ländern - und auch die Deutschen selbst - befürchtet hatten, für die sie aber stattdessen dankbar sein sollten.

Deutschland muss mehr als früher auf die Bedürfnisse der kleinen europäischen Staaten achten und auf die Länder, die sich aufgrund der deutsche Blüte zur zweitrangigen Macht herabgestuft fühlen. Abgesehen davon sollte man sich glücklich schätzen, dass Deutschland aufgrund der Umstände diese Rolle zugefallen ist. Wenn die Eurokrise fünf Jahre früher ausgebrochen wäre, wäre Deutschland nicht in der Lage dazu gewesen.

(De Volkskrant, Amsterdam 13.3.)

Die spanische Tageszeitung El Pais dagegen zeigt sich unter dem Titel „Die deutsche Wette und das griechische Dilemma“ überzeugt, dass Deutschland die Führungsrolle in der Bekämpfung der Eurokrise allein aus Eigennutz übernommen hat und es nun nur noch um die Frage geht, wann und zu welchen Bedingungen Griechenland den Euro verlässt.

Die Deutschen wissen, dass die Hilfszahlungen nicht Griechenland, sondern den Euro retten sollten und am Ende sie selbst. Die Griechen müssen sich nun entscheiden zwischen Jahrzehnten der Kürzungen und der unbezahlbaren Schulden, der Zahlungsunfähigkeit innerhalb der Währungsunion, oder eben dem Austritt aus der Eurozone, was einen sofortigen Zusammenbruch der Wirtschaft und der Institutionen bedeuten würde. [...] Das ist das Dilemma, in dem Griechenland heute steckt.

(El País, Madrid, 6.3.)

In Zusammenarbeit mit Spiegel Online.

Kategorien
Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Nutzen Sie unsere Abo-Angebote oder stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.