Bericht zur Lage der Union

„Barroso hat nicht überzeugt“

Acht Monate vor den Europawahlen, die für die Zukunft der Europäischen Union von entscheidender Bedeutung sein werden, hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso mit seiner Rede zur Lage der Union die Gelegenheit nicht genutzt, die Menschen für das Europäische Projekt zu mobilisieren, bedauert die europäische Presse.

Veröffentlicht am 12 September 2013 um 14:03

In den Spalten der belgischen Tageszeitung Le Soir muss Kolumnist Maroun Labaki anerkennen, dass die Rede zur Lage der Union „ein großer Moment im europäischen Jahr ist. Sie ist eine Gelegenheit, um Höhe zu gewinnen, um Geschichte zu schreiben. Eine politische Operation, eine PR-Operation: José Manuel Barroso hat in der Vergangenheit gezeigt, dass er Meister in diesem Fach sein kann.“ Doch diesmal konnte er das belgische Blatt nicht überzeugen:

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In Straßburg aber hat José Manuel Barroso seine Rede völlig vermasselt. Es war wie jede x-beliebige seiner Reden, und er hält weiß Gott viele.... Acht Monate vor den Europawahlen kann eine Routineübung wie diese keine Antwort auf die Verwirrung und zunehmende Unzufriedenheit vieler Europäer sein [...] Wir wohnen vielleicht dem Anfang vom Ende des europäischen Projekts bei Eine Perspektive, bei der einem schwindlig wird... Einem haben wir mit Sicherheit beigewohnt: dem Anfang vom Ende des José Manuel Barroso.

Cerstin Gammelin von der Süddeutschen Zeitung aus München urteilt noch harscher und kritisiert nicht nur die Rede des Kommissionspräsidenten, sondern auch dessen „desolates Erbe“:

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Er trug die Erfolge seiner Europäischen Kommission vor, als lese er eine Einkaufsliste ab. Barroso, sonst ein guter, temperamentvoller Redner, steht am Ende seiner Amtszeit ähnlich da wie die Behörde, die er führte: mutlos, ideenlos. […] Nun ist die Schwäche Barrosos und seiner Kommission nicht nur ihm selbst, sondern auch den Umständen seiner Regierungszeit zuzuschreiben. Europa durchlebt die schwerste Krise seit seiner Gründung […] Doch auch da, wo er zuständig war, überzeugte Barroso nicht. Es misslang ihm, aus seiner Behörde ein starkes Gegengewicht zu den nationalstaatlichen Gremien zu machen. Nun verzichtete er auch noch darauf, seine letzte große Rede zu einem fulminanten Wahlkampfauftritt zu machen. Statt sich an die Bürger zu wenden, die mittels der Europawahl im kommenden Jahr erstmals bei der Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten mitreden können, blieb Barroso in technischen Ausführungen stecken. Eine Botschaft an den interessierten Bürger blieb der Präsident der mächtigsten europäischen Behörde schuldig. Der Kommissionspräsident wagte es nicht einmal, die Probleme der Gemeinschaft und die dafür Verantwortlichen direkt anzusprechen. Seiner Diagnose, die Bürger wendeten sich von europäischen Ideen ab, folgte kein Vorschlag für eine Therapie. Das Bild, das sich am Mittwoch im Straßburger Plenum bot, war so trist wie die Stimmung. Die EU-Kommission wurde einst geschaffen, um dafür zu sorgen, dass auf dem europäischen Binnenmarkt alles mit rechten Dingen zugeht. Heute, nach zehn Jahren Barroso, ist sie so schwach wie nie zuvor. Früher wurde die Brüssler Behörde vor allem in den südlichen Ländern als zuverlässige Einrichtung gefeiert. Heute vertrauen die Bürger eher wieder nationalen Institutionen. Länder wie Großbritannien, die Niederlande und auch Deutschland überlegen sogar, Kompetenzen aus Europa zurück nach Hause zu holen. Das ist bedrohlich. Denn der Binnenmarkt ist jenseits aller Pläne über eine politische Union der real existierende Kitt, der die 28 Länder der Europäischen Union zusammenhält. Die Kommission ist sein oberster Wächter. Wer daran rüttelt, gefährdet die Grundfesten der EU. Angesichts dieses desolaten Erbes ist eines klar: Einen Präsidenten wie Barroso kann sich Europa nicht noch einmal leisten.

Auch Tomasz Bielecki der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza zeigt in seinem Kommentar wenig Nachsicht mit dem KOmmissionspräsidenten:

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Im Grunde hat Barroso recht mit seiner Verteidigung Brüssels (und damit seiner eigenen), doch er stellt sich ungeschickt an, um dem Normalbürger diese Botschaft zu vermitteln. Die Krise, die — so sagt er selbst — noch nicht überstanden ist, hat den Euroskeptizismus im linken wie im rechten Lager geschürt […] Die Europawahlen vom Mai 2014 werden zum Test, um festzustellen, wie sehr die Krise den ihn genährt hat. Normalerweise stehen im Europawahlkampf nicht europäische, sondern nationale Themen im Mittelpunkt. Doch diesmal könnte er sich um die Lösungen für Europa drehen. Aufgrund der Krise (und der kontroversen Lösungsansätze, um sie zu bewältigen) ist Europa — wie Barroso es selbst formulierte — zum Thema in Cafés, Kneipen und Talkshows geworden. Daher auch sein Appell an die pro-europäischen Politiker, die Stimme zu erheben und sich für die europäische Integration stark zu machen. Es aber leider auch bedauerlich, dass die Welle der Euroskepsis von einer so schwachen, wenig charismatischen und willensstarken Persönlichkeit aufgehalten werden soll wie José Manuel Barroso.

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