Melbourne tanzt Sirtaki, Australien, 18. Juli 2004

Ansturm auf Australien

Für junge Europäer aus krisengebeutelten Ländern ist das florierende Australien zum Land der neuen Chancen geworden. Dies trifft besonders auf eine neue Generation von griechischen Studienabgängern zu, die sich der weltweit größten Gemeinschaft von Auslandsgriechen anschließen.

Veröffentlicht am 22 Dezember 2011 um 17:08
Melbourne tanzt Sirtaki, Australien, 18. Juli 2004

Seit mehreren Monaten zieht ein Strom vorwiegend junger Männer und Frauen, frisch vom Flieger aus Griechenland, ins Stadtzentrum von Melbourne und klopft an die Türen eines großen Gebäudes in der Lonsdale Street. Der Häuserblock aus den 40er Jahren ist der Hauptsitz der größten griechischen Gemeinde Australiens.

Ähnlich wie beim großen Goldrausch der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert sind die Männer und Frauen auf der Suche nach einem besseren Leben um die halbe Welt gereist. Doch anders als die Griechen von einst sind diese neuen Emigranten auffallend versiert, mit hart verdienten Diplomen in einigen der schwierigsten Fachgebiete."Alle sind Hochschulabsolventen, Ingenieure, Architekten, Mechaniker, Lehrer, Banker, die für eine Arbeit alles tun würden", berichtet Bill Papastergiades, Rechtsanwalt und Vorsitzender der Gemeinde. "Es sind verzweifelte Menschen. Wir sind alle ganz entgeistert. Oft tauchen sie nur mit einer Tasche auf. Ihre Geschichten sind herzzerreißend und mit jedem Flug kommen mehr", erzählte er dem Guardian in einem Telefoninterview.

Der Auszug ist nur ein Teil des menschlichen Dramas, das sich in Griechenland, wo Europas Krise begann, abspielt. Seit Juni, so erzählen die führenden Mitglieder der Gemeinde in Melbourne, werden sie überhäuft mit Tausenden von Briefen, E-Mails und Anrufen. Alle kommen von Griechen, die verzweifelt versuchen, in ein Land auszuwandern, das von den Turbulenzen des globalen Markts abgeschirmt ist und heute als das Land der unüberbietbaren Chancen gilt.

Neue Hoffnung in Australien

Allein dieses Jahr sind 2500 griechische Bürger nach Australien gezogen und Beamte in Athen erklären, weitere 40.000 hätten ebenfalls "Interesse bezeugte, das mühsame Verfahren einer Umsiedlung einzuleiten. Eine "Skills-Expo" der australischen Regierung mit 800 Plätzen, die im Oktober in der griechischen Hauptstadt veranstaltet wurde, zog rund 13.000 Bewerber an.

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Da sich Griechenland auf ein fünftes Rezessionsjahr einstellt, mit einer rekordhohen Arbeitslosenquote von 18 Prozent, die bei den jungen Griechen auf beispiellose 42,5 Prozent steigt, bleibt zu erwarten, dass die Abwanderung hoch qualifizierter Arbeitskräfte noch zunimmt. Im Vergleich dazu soll die australische Wirtschaft im Jahr 2012 um vier Prozent wachsen. "Oft sagen die Leute, sie wollen bloß nicht, dass ihre Kinder hier aufwachsen", sagt Papastergiades. "Neulich bekam ich einen Anruf von einem griechischen Klempner, der seit acht Monaten nicht gearbeitet und drei Kinder zu ernähren hatte. Er war so verzweifelt, dass er schon mit dem Gedanken gespielt hatte, sich umzubringen."

Tessie Spilioti gehört zu denjenigen, die bereits nach Australien übergesiedelt sind. "Es gibt auf der ganzen Welt keinen Ort wie Griechenland. Das Land und meine Freunde fehlen mir, jeden Tag", meint Spilioti, die in Australien aufwuchs, bevor sie vor 27 Jahren nach Athen zog. "Doch Australien ist ein positives Land. Es ist ein Schlaraffenland, es gibt hier ein Gefühl des Wohlstands und der Chancen", schwärmt sie. "Das fehlt in Griechenland völlig. Dort sind die Leute von Panik ergriffen, die Stimmung ist schlecht, die Moral ist im Keller und es herrscht ein Gefühl, fast als wäre man unter Belagerung. Ich hätte nie gedacht, dass ich dort einmal weggehen würde, aber mit dem Stress um das tägliche Überleben war mir klar, dass man sich dort nur sehr schwer weiterentwickeln kann."

Russland, China und Irak sind ebenfalls beliebte Ziele

Zwei Generationen gelten infolge der großen griechischen Wirtschaftskrise als verloren. Die neue Diaspora wird, den Experten zufolge, mit großer Wahrscheinlichkeit aus jüngeren Griechen bestehen. Diese sind zwar gut ausgebildet und beherrschen mehrere Sprachen, doch sie können in Griechenland nicht überleben. Die Wirtschaft des Landes ist in freiem Fall, zum Teil wegen der strengen Sparmaßnahmen, die ihm im Austausch für die Hilfe aufgezwungen wurden. Eine kürzliche Studie der Universität Thessaloniki zeigt, dass die Griechen sich heute mehrheitlich dafür entscheiden, im Ausland nach Arbeit zu suchen, wobei die jüngere Generation in so verschiedene Länder wie Russland, China und den Irak geht.

Von den Befragten hatten die meisten noch nicht einmal versucht, zuhause Arbeit zu finden. Sie sahen keine Zukunft in einer Wirtschaft, die mindestens für die nächsten zehn Jahre den Gürtel enger schnallen müssen wird.

In Australien hat der Zustrom andere Griechen bestürzt, die in den 50er und 60er Jahren durch die Armut zum Auswandern gezwungen worden waren. Jahrelang sahen die verschiedenen Regierungen in Athen auf die Diaspora herab, griechische Staatsangehörige im Ausland erhielten nicht einmal das Wahlrecht – sogar an Orten wie Melbourne, wo die erfolgreiche griechische Gemeinde mehr als 300.000 Menschen zählt. Der Anblick der massiv anreisenden, talentierten Jugend aus der Heimat – die meisten sind sogar bereit, sich auch als Hilfsarbeiter zu verdingen – war ein unsanftes Erwachen.

"Es sind viele Träume zerbrochen", meint dazu Litsa Georgiou (48), die letztes Jahr mit ihrem athenischen Mann und der kleinen Tochter nach Sydney gezogen ist. "Die Gemeinde steht unter Schock." "Viele hatten gehofft, nach Griechenland zurückzugehen... und statt dessen hört man jeden Tag Geschichten von Leuten, die den 22-stündigen Flug angetreten haben, um hierher zu ziehen. Der Gedanke, dass es zehn Jahre dauern wird, bevor Griechenland überhaupt erst anfängt, sich zu erholen, ist schrecklich."

Eurokrise

Sparen in Irland, Portugal und Griechenland: immer mehr wandern aus

Der Guardian stellt ein Dossier über Auswanderung in der Krise vor und schreibt:

Seit ihrer Bildung ist die Europäische Union ein Zufluchtsort für jene, die vor Krieg, Verfolgung und Armut in anderen Teilen der Welt fliehen. Doch während sich die EU auf das einstellt, was Angela Merkel ihre schwerste Stunde seit dem Zweiten Weltkrieg genannt hat, scheint sich der Spieß umzudrehen. Ein neuer Migrantenstrom verlässt den Kontinent und droht, zur Lawine zu werden, falls sich die Schuldenkrise noch weiter verschlimmert.

Am stärksten betroffen sind Irland, Griechenland und Portugal, die sich in den letzten beiden Jahren alle einem Rettungsschirm von EU und IWF sowie drakonischen Sparhaushalten unterwerfen mussten.

In Irland, wo 14,5 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, nahm die Auswanderung seit 2008 stetig zu, seitdem Lehman Brothers zusammenbrach und dem irischen Immobilienmarkt der Boden wegfiel. In den zwölf Monaten bis April dieses Jahres verließen nach Angaben des zentralen Statistikamts 40.200 irische Staatsangehörige das Land, im Vorjahr waren es nur 27.700.

Mindestens 10.000 Portugiesen wanderten in die frühere Kolonie Angola aus, sowie nach Mozambique und Brasilien. Nach Angaben der brasilianischen Regierung stieg die Anzahl der Portugiesen im Land von 276.000 im Jahr 2010 auf knapp 330.000.

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