Komm' ins Zweiklasseneuropa

Die Maßnahmen gegen die Finanzkrise verändern die Substanz der EU. Die Länder, die nicht zur Eurozone gehören, sehen dem Wandel von außen zu und befürchten, zweitrangige Mitglieder zu werden.

Veröffentlicht am 17 Juni 2010 um 14:11

Als Spanien, das derzeit den Vorsitz der Europäischen Union führt, im Januar zu einer verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU und zu Sanktionen gegen die zu hoch verschuldeten Staaten aufrief, wurde Ministerpräsident Zapatero ausgelacht.

Doch sobald die Krise zu einer virusartigen Bedrohung für die ganze Eurozone wurde, war Koordination in Brüssel plötzlich ein sehr angesagtes Konzept. "Krisen sind die besten Reformbeschleuniger", finden die europäischen Diplomaten heute. Einziger Wermutstropfen: Die kommenden Reformen könnten die EU in verschiedene Clubs mit mehr oder weniger integrierten Ländern aufsplittern und Polen (sowie die anderen "neuen" Mitglieder) muss darum kämpfen, nicht in die zweite Kategorie relegiert zu werden.

Deutschland und Frankreich entscheiden offen allein

Der gegenwärtige, durch die Griechenlandkrise noch beschleunigte Wandel hängt vorwiegend von Entscheidungen ab, die Deutschland und Frankreich ohne Einbeziehung der Europäischen Kommission getroffen haben. Nun hat die Eurozone, die zum harten Kern der EU geworden ist, einen zwischenstaatlichen Fonds [den europäischen Stabilitätsfonds] mit Sitz in Luxemburg und minimaler Beteiligung Brüssels gebildet, der den Ländern der Eurozone finanzielle Unterstützung gewähren soll, falls sie mit schweren Finanzproblemen konfrontiert werden.

Einer für alle, alle für einen. Das Abkommen bezüglich dieses Fonds ändert de facto die EU-Verträge, erklärte kürzlich Pierre Lellouche, der französische Minister für Europäische Angelegenheiten. Zudem arbeiten die Franzosen, trotz einer gewissen Unschlüssigkeit in Berlin, auf die Bildung eines ständigen Rates für die Länder der Eurogruppe hin, der ihre Wirtschaftsstrategien koordinieren und die Haushaltsdisziplin überwachen soll.

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Reformen deuten auf Schaffung der Kerngruppe aus 16 Ländern

Deutschland hingegen wünscht sich strenge Strafmaßnahmen für diejenigen Länder, die eine notorische Nachlässigkeit in Haushaltsbelangen beweisen. Für sie sollen zum Beispiel keine Auszahlungen aus den EU-Fonds (die Strukturfonds eingeschlossen) mehr erfolgen.

Selbst wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel versichert, dass die Reformen alle 27 Mitgliedsstaaten der EU betreffen müssen, ist es nur schwer vorstellbar, dass ein derartiges System schwerer Sanktionen jemals von London akzeptiert wird, da man dort immer sehr aufmerksam auf die Wahrung der eigenen Souveränität und der eigenen Rechte innerhalb der Union achtet. Erweist sich die wirtschaftliche Koordination mit 27 Ländern als unmöglich, dann wird sie sich auf die Eurozone beschränken. Denn es ist kaum wahrscheinlich, dass Deutschland den Kampf für einen stabilen Euro aufgibt, wie ein hochrangiger EU-Diplomat bemerkt.

Die Kommission versinkt in Bedeutungslosigkeit

Gewiss, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy sind sich über die Modalitäten der nötigen Reformen nicht einig, doch Deutsche, Franzosen und Niederländer bringen der Europäischen Kommission immer stärkeres Misstrauen entgegen. Schließlich hat sie bei Athen, das seit Jahren seine Statistiken fälschte, ihre Kontrollfunktion nicht erfüllt, so tönen kritische Stimmen. Weiter wird der Kommission Laschheit vorgeworfen, weil sie auf die Anzeichen der Finanzkrise hin zu keiner unmittelbaren Reaktion fähig war.

Gerade die Kommission empfahl schon seit mehreren Jahren, die Haushaltsausrichtungen der Mitgliedsstaaten zu bewerten. Die Finanzminister billigten diese Idee zunächst, schlossen allerdings jegliche Beteiligung der Kommission aus. Die Europäische Union wird von einer sowohl internen als auch externen Vertrauenskrise zersetzt, meint der österreichische Politologe Paul Luif.

Van Rompuy genießt mehr und mehr Vertrauen

Die verminderte Rolle der Kommission sowie der anderen gemeinschaftlichen Institutionen schwächt die Vorgänge, die eine breite Beteiligung aller Mitgliedsstaaten am Entscheidungsprozess der EU garantieren sollen. So fiel zum Beispiel bei den Debatten über den Hilfsfond nicht ins Gewicht, wie viele Sitze im Europäischen Parlament oder wie viele Stimmen im Rat dieses oder jenes Land innehatte, sondern es galt die Meinung der Hauptzahler in der EU sowie ihre Krisendiagnose.

"Als ich zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt wurde, nannte man mich eine belgische graue Maus. Heute höre ich, dass ich meine Kompetenzen aufblähe. Was für ein unglaublicher Fortschritt in nur fünf Monaten", flachst Herman Van Rompuy, der sich Kommissionspräsident José Manuel Barroso gegenüber immer mehr durchsetzt. Die Mitgliedsstaaten tragen die Arbeiten zu den krisenbedingten Reformen an den Belgier heran, nicht an den Portugiesen.

Europa der zwei Geschwindigkeiten bitte mit Polen

Durch die Entwicklung der wirtschaftlichen Kooperation, der Hilfsregelungen und sogar der Sanktionen innerhalb der Eurozone wird sich die Aufspaltung der EU in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten unweigerlich noch etwas mehr vertiefen. In diesem Europa könnten Polen und die anderen, nicht zur Eurozone gehörenden Länder zu Randmitgliedern mit weniger Integration und weniger Geltung werden. Polen und Schweden warnen aktiv vor diesem Szenario. Doch kann diesem Vorgang wirklich ein Ende gesetzt werden? Kann die Integration des harten Kerns der EU verlangsamt werden, damit der Beitritt Polens zum Euro nicht verhindert wird?

Das Konzept der verschiedenen Geschwindigkeiten ist schlecht, denn es stammt aus einer längst überholten Zeit. Niemand will heute ausdrücklich einen harten Kern der EU bilden – es geht nur darum, sich vor der Krise zu retten. Es erstaunt nicht, dass sich die bedeutendsten Länder der Europäischen Union nicht an die Funktionäre in Brüssel wenden, sondern ihre eigenen Ideen, die sie für besser halten, direkt umsetzen. Und manchmal diskutieren sie auch lieber außerhalb Brüssels, gibt ein polnischer Diplomat zu. Anstatt sich einer verstärkten wirtschaftlichen Koordination entgegenzusetzen, sollte Warschau lieber den Ländern an der Spitze nachjagen und so schnell wie möglich auf den "Hochgeschwindigkeitszug" aufspringen. (pl-m)

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