Vom Triopol zum Trialog bitte... Kanzlerin Merkel, mit den Präsidenten Medwedew und Sarkozy in Deauville, 18. Oktober 2010.

Neues Spiel in Deauville

Beim deutsch-französisch-russischen Gipfeltreffen in Deauville zeichnete sich eine neue geopolitische Ordnung in Europa ab. Bisher galt das traditionelle Bild einer EU, mit einer nach Osten drängenden NATO an ihrer Seite. Das neue Europa hat drei Pole: Russland, die Türkei und die EU führen jeweils ihre eigene Nachbarschaftspolitik, die mit den beiden anderen in Konkurrenz steht.

Veröffentlicht am 22 Oktober 2010 um 15:46
Vom Triopol zum Trialog bitte... Kanzlerin Merkel, mit den Präsidenten Medwedew und Sarkozy in Deauville, 18. Oktober 2010.

Der Sicherheitsgipfel mit Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Dmitri Medwedew sollte aller Wahrscheinlichkeit nach ein Reinfall werden. Frankreich wollte etwas Spektakuläres, Deutschland etwas Vernünftiges und Russland etwas Eintauschbares. Die Chancen für ein Treffen standen also schlecht. Doch die Zusammenkunft im französischen Deauville könnte sich sehr wohl als ein Reinfall mit Folgen herausstellen. Wenn die Historiker später einmal zurückblicken, ist dies vielleicht der Augenblick, an dem die Staats- und Regierungschefs zugeben mussten, dass sie in einem multipolaren Europa leben.

Allein schon die Tatsache, dass der Gipfel abgehalten wurde, setzt dem Solipsismus der Europäischen Union ein Ende. In den 90er Jahren glaubten viele große Denker, Europa wandle sich zu einem „postmodernen“ Kontinent, der nicht mehr auf Machtverhältnissen beruhte. Sowohl die Staatshoheit als auch die Trennung von Innen- und Außenpolitik sollten an Bedeutung verlieren. EU und NATO sollten sich nach und nach ausdehnen, bis alle europäischen Staaten an dieselben Vorgehensweisen gebunden wären. Und bis vor kurzem sah es auch so aus, als würde das alles tatsächlich passieren. Mittel- und Osteuropa veränderten sich, Georgien und die Ukraine legten eine westlich orientierte Volksmacht an den Tag und die Türkei näherte sich langsam aber sicher dem EU-Beitritt.

Das Versagen der offiziellen Institutionen

Doch heute verblassen die Aussichten auf diese unipolare europäische Ordnung. Russland sieht die NATO- bzw. EU-Erweiterungen nur ungern und besitzt genug Einfluss, um offen eine neue Sicherheitsstruktur zu fordern. Die Türkei ist frustriert darüber, wie manche EU-Staaten ihre Beitrittsverhandlungen blockierten, verfolgt zunehmend eine unabhängige Außenpolitik und strebt eine bedeutsamere Rolle an. Dazu kommt noch, dass die USA, die mit Afghanistan, dem Iran und dem Aufstieg Chinas alle Hände voll zu tun haben, heute keine Vollzeitmacht in Europa mehr sind. Und schon ragt in der Ferne das multipolare Europa auf.

Infolgedessen zeichnen sich statt einer einzigen, multilateralen, auf EU und NATO konzentrierten Ordnung nun drei Pole ab – Russland, die Türkei und die EU – die alle eine „Nachbarschaftspolitik“ ausarbeiten, mit der sie auf ihre jeweiligen, sich überschneidenden Einflussbereiche im Balkan, in Osteuropa, im Kaukasus und in Mittelasien einwirken wollen. Gewiss, ein Krieg zwischen den Hauptmächten ist unwahrscheinlich. Doch der Wettlauf verstärkt sich und die existierenden Institutionen waren nicht in der Lage, die Kosovo-Krise von 1998/99 abzuwenden, das Wettrüsten im Kaukasus zu verlangsamen, den Erdgaslieferungsstopp für Europa von 2008 zu vermeiden, den Krieg zwischen Russland und Georgien zu verhindern oder der Instabilität in Kirgisistan 2010 Einhalt zu gebieten – ganz zu schweigen von jeglichem Fortschritt bei der Lösung der anderen so genannten eingefrorenen Konflikte auf dem Kontinent.

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Aus illusorischer Ordnung wird reale Unordnung

Das wesentlichste Paradox ist dabei die Tatsache, dass die EU in den letzten zehn Jahren viel Zeit damit verbracht hat, ein System zu verteidigen, das ihre eigenen Regierungen heute als unbrauchbar erkennen. Sie widersetzten sich Moskaus Forderungen nach Sicherheitsgesprächen, um den gegenwärtigen Stand aufrecht zu erhalten. Doch da die offiziellen Institutionen aufgrund ihrer Rivalitäten am toten Punkt stehen, umgehen die EU, Russland und die Türkei sie immer öfter. So erkannten zum Beispiel manche EU-Mitgliedsstaaten den Kosovo trotz des russischen Widerspruchs als unabhängigen Staat an, Russland erkannte trotz des Widerspruchs der EU die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien an, und die Türkei kooperierte bei der Formulierung einer Antwort auf die Atomkraftdrohungen aus dem Iran mit Brasilien, ohne die NATO zu konsultieren. Durch die Verteidigung einer illusorischen Ordnung riskieren die europäischen Staatschefs, dass die Unordnung zur Realität wird.

Und hier kommt der Gipfel von Deauville zum Zug. Er hat die richtige Tagesordnung, aber die falschen Teilnehmer. Wir sind der Meinung, dass anstatt von Verhandlungen über einen neuen Vertrag oder der Veranstaltung eines weiteren Treffens von Paris, Berlin und Moskau, die EU einen informellen „Sicherheitstrialog“ mit denjenigen Mächten einrichten sollte, die ihre Sicherheit im 21. Jahrhundert mitgestalten, nämlich Russland und die Türkei. Riete die EU zu einem derartigen Forum, würde sie sich von ihren defensiven Reaktionen auf Medwedews Vorschlag von 2008 für einen neuen Sicherheitsvertrag abwenden.

Trialog EU/Russland/Türkei ist die Zukunft

Indem sie der Türkei – parallel zu den Beitrittsverhandlungen – einen Platz am obersten Verhandlungstisch einräumten, könnten EU-Chefs dazu beitragen, die europäische Identität der Türkei aufrecht zu erhalten und sich zugleich ihre Hard Power und Soft Power in den Nachbarländern zunutze machen. Und wenn statt Berlin und Paris vielmehr Cahterine Ashton – die Chefin der EU-Außenpolitik – an den Gesprächen teilnähme, dann könnten die Mitgliedsstaaten den Missstand beheben, dass die EU in keiner der Sicherheitsinstitutionen des Kontinents vertreten ist, obwohl sie doch zu denen gehört, die innerhalb Europas die meiste Sicherheit bereitstellen.

Die EU braucht einen neuen strategischen Ansatz, bei dem es nicht darum geht, zwischen den europäischen Mächten in Europa Kriege zu verhindern, sondern vielmehr darum, gemeinsam in einer Welt zu leben, in der sie näher am Rand stehen und in welcher ein zusammenbrechender Nachbar genauso besorgniserregend sein kann wie ein mächtiger. Das Ziel sollte sein, statt eines tripolaren ein trilaterales Europa zu bilden. Das Einrichten eines informellen Trialogs könnte der alten institutionellen Ordnung neues Leben verleihen und – frei nach Lord Ismay – dazu beitragen, dass die EU vereint, Russland postimperialisch und die Türkei europäisch bleibt.

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

Aus der Slowakei

Neuer deutsch-französischer Imperialismus

Exklusive Gipfeltreffen wie das, zu dem Nicolas Sarkozy, Angela Merkel und Dmitri Medwedew diese Woche im nordfranzösischen Deauville zusammenkamen, wirken verdächtig, schreibt Politikwissenschaftlerin Jana Kobzová vom European Council on Foreign Relations. Ein multipolares Europa dürfe nicht auf imperialistische Art von seinen Großmächten angeführt werden, kommentierte Kobzová in der liberalen Tageszeitung SME: „Deauville machte sich im 19. Jahrhundert als Strandbad einen Namen, als die mächtigen Staaten Europa in Einflussbereiche unterteilen. Dieses Treffen erinnert an die Arrangements zwischen den Mächtigen, an Bismarck und Talleyrand. […] Das Europa von heute […] steht Problemen gegenüber, für die es keinen Lösungsmechanismus besitzt. Diskussionsthemen gibt es mehr als genug. Bleibt jedoch die Frage, was sich an Europas Sicherheit ändern wird, nach dieser Diskussion in Deauville, zu welcher die Regierungschefs von Frankreich, Deutschland und Russland weder 90 Prozent der europäischen Staaten noch die an Bedeutung zunehmende Türkei einluden. […] Das Problem ist nicht nur das Treffen in Deauville, sondern auch der Trend, der sich hier abzeichnet. Die EU droht in Zeiten zurückzufallen, in welchen sie unter den Einflussbereichen der europäischen Großmächte aufgeteilt wurde. Das kann für den multipolaren Kontinent nichts Gutes bedeuten.“(Aus eurotopics)

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