Bundesstaat Europa? Gerade passiert.

Vergessen Sie Angela Merkels Vertragsänderungen oder David Camerons Kritteleien über den EU-Haushalt, das wahre Ereignis beim letztwöchigen Gipfeltreffen in Brüssel war Europas wichtiger Schritt in Richtung eines Einheitsstaates.

Veröffentlicht am 3 November 2010 um 12:19

Während es in den [britischen] Schlagzeilen hauptsächlich um die Landespolitik geht, spielen sich die wirklich historischen Ereignisse in Europa ab. Großbritannien mag seine erste Koalitionsregierung seit 70 Jahren erleben, doch Europa hat etwas weit Bedeutsameres unternommen: Die EU tätigte ihren entscheidendsten Schritt in Richtung eines echten Einheitsstaates, indem sie die politischen Schlüsselbereiche Steuern und öffentliche Ausgaben von der nationalen auf die föderale Ebene übertrug.

Dass eine der meistumstrittenen Entscheidungen der modernen europäischen Geschichte von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen oder diskutiert wurde, macht dem von den politischen EU-Eliten perfektionierten Top-Down-Ansatz der Regierung alle Ehre. Die EU-Version der elitären repräsentativen Demokratie könnte – trotz ihrer offensichtlichen Nachteile – ein erfolgreicherer Mechanismus zur Verwaltung der komplexen, in einer Welt der immensen geopolitischen Veränderungen erforderlichen Kompromisse sein als die populistischeren Modelle in den USA oder in Großbritannien und somit in die Geschichte eingehen.

Am Anfang war die Finanzkrise

Es begann, wie fast alles heutzutage, mit der Finanzkrise. Nach Lehman Brothers’ Zusammenbruch von 2008 war es fast unvermeidlich, dass die finanzielle Panik auf Europa übergriff und den Fortbestand des Euro bedrohte. Im Herbst 2009 schlug die Krise ein und erreichte ihren Höhepunkt am Wochenende des 8. und 9. Mai, als die griechische Regierung nicht in der Lage war, Anleihen zurückzuzahlen, die am folgenden Montag fällig wurden.

Den europäischen Staats- und Regierungschefs ging auf, dass ein griechischer Zahlungsausfall nicht nur in Griechenland, sondern auch in Irland, Portugal, Spanien und Mitteleuropa einen Run auf die Banken auslösen würde. Innerhalb von Tagen, oder sogar Stunden, wären die Euros in den griechischen, spanischen und italienischen Banken nur noch einen Bruchteil der Euros in den deutschen und niederländischen Banken wert. Der Euro würde praktisch nicht mehr existieren.

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Die Brüsseler Nacht der Wunder

Am Abend des 9. Mai stand Europa am Rande eines Abgrunds. Doch seine führenden Politiker errichteten einen Finanzmechanismus im Wert von bis zu 750 Milliarden Euro, um den Staaten zu Hilfe zu kommen, die bei privaten Investoren keine Mittel mehr aufbringen konnten. Viel wichtiger: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel überwand ihre Prinzipien und bewilligte die Aufhebung der „no bail-out“-Klausel. Letztere war unter großen Mühen in den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden und sollte der deutschen Öffentlichkeit versichern, dass sie durch die Annahme des Euro keine finanzielle Verantwortung für die verschwenderischen Regierungen des „Club Med“ übernehmen müsse.

Ebenso überraschend stimmte das britische Finanzministerium gemeinsamen EU-Kreditprogrammen zu und bewilligte die Überwachung der nationalen Steuer- und Ausgabenpläne durch Brüssel, wodurch effektiv ein EU-Bundeshaushalt entstand. „Es war wirklich die Nacht der Wunder“, erzählt die ehemalige italienische EU-Kommissarin Emma Bonino.

Das Abkommen zur Rettung des Euro wäre jedoch nicht lebensfähig, wenn sich die Regierungen nicht zu ständigen gemeinsamen Garantien für die Schulden der Euro-Staaten verpflichteten. Solche Garantien wiederum könnten nicht ohne Finanzausgleichsmechanismen für die ganze Eurozone funktionieren. Und einem derartigen Finanzausgleich würden Deutschland und andere Gläubigerländer niemals zustimmen, wenn die zentrale Kontrolle über die Staatshaushalte nicht bedeutend stärker wäre als alles, was je zuvor vorgeschlagen wurde.

Gipfel beschließt gegenseitige Finanzhilfe

Beim EU-Gipfel in Brüssel letzte Woche wurden diese Mechanismen im Prinzip beschlossen. Die meisten Schlagzeilen handelten von nebensächlichen Themen, wie David Camerons Verteidigung des britischen Haushaltsnachlasses oder Angela Merkels Bestehen auf der Überarbeitung der EU-Verträge. Wirklich wichtig ist jedoch, dass Deutschland erneut nachgegeben hat. Der Gipfel einigte sich darauf, dass kein Land dazu gezwungen werden kann, vom Euro zurückzutreten, weil es unfähig ist, seine Schulden zu bezahlen.

Obwohl niemand – auch nicht die Staats- und Regierungschefs selbst – präzise sagen kann, worauf man sich nun eigentlich genau geeinigt hat, bedeutet das implizit, dass die EU ständige Mechanismen zur gegenseitigen finanziellen Unterstützung aller Länder der Eurozone errichten und dies in zukünftigen EU-Verträgen niederlegen wird. Die Tatsache, dass Angela Merkel auf der Änderung des Vertrags besteht, schützt den deutschen Steuerzahler nicht vor den finanziellen Konsequenzen, ganz im Gegenteil, sie verstärkt die Verpflichtung zu zukünftigen Rettungsaktionen. Durch die ausdrückliche Revision der „no bail-out“-Klausel gewährleisten Merkels Vertragsänderungen dem finanzpolitischen Föderalismus der EU eine nicht rückgängig zu machende Rechtskraft.

Zentrale Kontrolle von Staatsausgaben wird kommen

Warum sollten deutsche Politiker derart kostspieligen neuen Verpflichtungen zustimmen? Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens sind Deutschlands Industrie- und Finanzsektoren stark abhängig von der Stabilität und vom Wohlstand innerhalb der Eurozone. Zweitens wird die politische Vereinigung von Deutschlands politischer und wirtschaftlicher Elite schon lange als selbstverständliche Bestimmung angesehen.

Die Deutschen sind allerdings nicht dumm. Sie werden sich nicht bereit erklären, ohne deutlich engere finanzielle Kontrollen den ständigen Garant für die unbedachteren EU-Länder zu spielen. Die Bedingung für den finanzpolitischen Föderalismus wird ein Ausmaß an politischer Zentralisierung sein, das jetzt noch schwer vorstellbar sein mag, sich jedoch als unvermeidbar abzeichnet.

Heilsame Krise im Sinne der Gründerväter

Es ist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass beim Rentenalter, bei den Sozialleistungen und sogar bei den Vorkehrungen im Gesundheitsbereich in verschiedenen Ländern so große Unterschiede bestehen können, wenn ihre Politik gemeinschaftlich garantiert ist. So ist aus rein ökonomischer Sicht die Annäherung an ein Rentenalter von 67 Jahren in ganz Europa eine der meistversprechenden Konsequenzen der Finanzkrise.

Die Fortschritte der europäischen Integration erfolgten immer aufgrund von Krisen – und nach der diesjährigen Krise der Eurozone war ein großer Sprung in Richtung eines finanziellen und politischen Föderalismus unumkehrbar geworden. Genau das hatten die Gründer des Euro beabsichtigt.

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

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