"Das ist Rassismus in Reinstform". Junge Nordiren besichtigen Auschwitz.

Schocktherapie gegen Rassismus

Das Leben ist nicht immer einfach für die 30 000 Polen, die in Nordirland leben. Die katholischen Einwanderer werden nicht unbedingt gern gesehen von den Einheimischen. Vor allem nicht von den Mitgliedern der protestantischen paramilitärischen Truppen. In Belfast hat ein Ehemaliger von ihnen jedoch beschlossen, seine Kollegen zu mehr Toleranz zu erziehen, indem er sie nach Auschwitz führt.

Veröffentlicht am 30 November 2010 um 16:34
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Frank Higgins ist 50. Er trägt die grüne Ausgehuniform des Soldaten eines britischen Regiments in Nordirland, zu der eine grüne Mütze mit Troddel gehört. Higgins legt die erste Chrysantheme auf das Grab polnischer Legionäre aus dem Ersten Weltkrieg. "Piłsudski, wisst ihr noch, wer Piłsudski war?" Alle nicken, als hätte Frank Higgins gefragt, ob sie wissen, wer die britische Königin sei.

Bei Polen denkt er an randalierende Fußball- oder Papst-Fans

Ein Kollege von Stuart lässt sich am Grab der Familie des polnischen Papstes fotografieren. Dabei gesteht er, dass er noch vor wenigen Monaten, wenn von Polen die Rede war, an Fußballfans dachte, die gepflegte Restaurants im Zentrum von Belfast zertrümmerten. Aber auch an betrunkene Arbeiter in zerknitterten Sakkos, auf deren Revers ein Button mit dem Bild von Johannes Paul II. prangt.

Mark, von Beruf Flugzeugbauer und Mitglied des Red Hand Commando, einer paramilitärischen Truppe aus Belfast und Umgebung, die erst vor einem Jahr offiziell die Waffen niedergelegt hat, stimmt ihm zu. Die Besucher haben den Krakauer Wawel und das Salzbergwerk in Wieliczka besichtigt, und sie haben sich in einer Kneipe mit polnischen Studenten unterhalten. Zwischendurch fragt sich Mark, was Leute wie er tun können, um die 30 000 polnischen Emigranten in Ulster vor Schwierigkeiten zu bewahren. Denn in die geraten sie leicht. Die meisten Polen haben sich nämlich im protestantischen Osten von Belfast niedergelassen. "Dort sind die Mieten niedriger als in den katholischen Vierteln", erklärt Aleksandra Łojek-Magdziarz, von Beruf Iranistin und aktives Mitglied des Polnischen Vereins (PV) in Belfast.

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Im Frühling 2009 demolierten nordirische protestantische Schlägertrupps 150 Häuser von Polen, nachdem Schlachtenbummler (hauptsächlich aus Polen, Wales und Schottland) im Anschluss an das Spiel Nordirland - Polen das Stadtzentrum verwüstet hatten. "Die meisten Opfer der Unruhen waren harmlose polnische Familien" sagt Maciej Bator, der PV-Vorsitzende in Nordirland. Und er fügt hinzu, dass die Polen nicht nur für Harmlosigkeit Prügel beziehen. "Was die Protestanten am meisten stört, sind die lärmenden Trinkgelage der Polen", bekennt der Vorsitzende.

Obendrein machen die Polen sich nicht klar, was ihnen passieren kann, wenn sie die Gebräuche des Viertels missachten. "Probleme mit den Nachbarn werden in Belfast nicht von Beamten oder der Polizei geregelt, sondern von den älteren oder jüngeren Herren aus den seit einigen Jahren offiziell entwaffneten Kampfgruppen", erklärt Dr. Kacper Rękawek, Politologe von der Warschauer Hochschule für Sozialpsychologie und Verfasser von Publikationen über die Konflikte in Nordirland.

Männer mit Kalaschnikows im Anschlag bedrohnen die polnischen Einwanderer

Bei den polnischen Trinkgelagen in der Hauptstadt von Ulster kreuzen nicht selten Männer in Zivil mit Kalaschnikows im Anschlag auf. Und mit dem unmissverständlichen Ultimatum, dass den Emigranten genau 24 Stunden bleiben, um sich eine andere Wohnung zu suchen. Aber stoßen sich die Protestanten wirklich nur an den Gelagen? "Es ist schon sechs Jahre her, dass die Polen in Scharen nach Belfast kamen, aber noch immer sprechen viele kein Englisch, noch nicht einmal einen freundlichen Gruß erwidern sie, weil sie ihn nicht verstehen", sagt Maciej Bator.

Weil Nachbarn sich daran störten, dass Polen ihr Schnitzel vor dem Braten zu klopfen pflegen, kam es zu einem Streit, der jedoch geschlichtet werden konnte: Die zerstrittenen Familien sind jetzt miteinander befreundet. Von einer solchen Freundschaft oder zumindest von wohlwollender Toleranz träumt Frank Higgins. Er sehnt sich nach leicht geschmorten Rübchen in einem Krakauer Restaurant, obwohl er die eigentlich gar nicht mag.

Als Frank neun Jahre alt war, zogen Politiker zwischen der Shankill Road und der Falls Road eine Friedenslinie. Sie war aus Stahlbeton, fünf Meter hoch, oben drauf ein Stacheldraht, damit man keine Benzinflaschen hinüberwerfen kann. Sie erstreckte sich über fast drei Kilometer, und alle paar hundert Meter war eine Stahltür eingelassen. Die Friedenslinie wurde zu einem Gefahrenherd. Damals verwandelte Belfast sich für annähernd zwanzig Jahre in eine Stadt des Krieges.

Auf den Barrikaden der Falls Road herrschte die IRA, die Barrikaden der Shankill Road teilten sich die loyalistische Ulster Defence Association (UDA), die Ulster Volunteer Force (UVF) und das Red Hand Commando. Jenes Kommando, zu dem der Flugzeugbauer Mark gehört, heute der informelle Anführer seine Gruppe in Carrickfergus, einem Städtchen in Ulster, das voller protestantischer Loyalisten und katholischer Polen ist.

Vom Stacheldraht in Belfast zum Stacheldraht in Auschwitz

Mark wäre sicher nie nach Polen gekommen, wenn Frank Higgins durch die Drahtzäune von Belfast im Geiste nicht sehr viel weiter geblickt hätte – auf den Stacheldrahtzaun von Auschwitz nämlich. Doch zunächst verließ er die Armee. Es dauerte einige Jährchen, bis aus dem Soldaten zunächst ein Werftarbeiter und schließlich ein Diplom-Geschichtslehrer mit dem Schwerpunkt Holocaust wurde. Als dann in Nordirland (zumindest auf dem Papier) Frieden herrschte, tüftelte der ehemalige Fallschirmjäger den Plan aus, die informellen Schlägertrupps aus den Straßen von Belfast auf Exkursion nach Auschwitz zu schicken.

"Damit sie sehen, wohin dieser Rassismus in Reinstform führt", erklärt er. Das Projekt kam in Schwung, als die Polen in Ulster auftauchten. "Eigentlich war mir sofort klar, dass die polnischen Emigranten in Nordirland zu potentiellen Opfern des Rassismus werden können", sagt Frank. Und er täuschte sich nicht. "Man hat mir alle Übel der Welt vorgeworfen. Zum Beispiel, dass die polnischen Katholiken den Protestanten Arbeit und Wohnung wegnehmen. Ja sogar, dass wir für die Krise in Nordirland verantwortlich sind", bestätigt Darek, heute Wachmann und davor einige Jahre Verkäufer in einem nordirischen Supermarkt.

Deshalb hat Frank Higgins für Leute wie Mark (der glaubte, dass die Menschen in Polen am Hungertuch nagen) und Darek (der noch vor wenigen Jahren nicht den Unterschied zwischen einem Iren und einem Nordiren kannte) das Programm „Thin Edge of the Wedge” geschaffen, was man mit "Kleine Ursache, große Wirkung" übersetzen kann. Davon überzeugte er die Europäische Union (sie finanziert die Lehrgänge), den Polnischen Verein in Nordirland, in dem er mitwirkt, die Wissenschaftler von der Jagiellonen-Universität und den Krakauer Club des Dialogs und schließlich die polnischen Parlamentarier (nicht alle).

An den zwölfwöchigen Lehrgängen zur Geschichte des Rassismus und zur Geschichte Polens sowie an den psychologischen Workshops nehmen heute unter anderem Führer paramilitärischer Organisationen und resozialisierte Häftlinge (darunter auch ehemalige Terroristen) aus Ulster teil. Es sind Leute, die in den Gemeinschaften von Belfast etwas zu sagen haben. Im Laufe von drei Jahren möchte Frank einige hundert solcher Leute umschulen.

"Frank ist einfach genial", meint Aleksandra Łojek-Magdziarz. „Er hat geschafft, was vorher unmöglich schien: Er kommt mit Leuten nach Polen, die eine ausgesprochene Abneigung mitbringen, und wenn sie zurückfahren, hat er aus ihnen glühende Liebhaber des Landes an der Weichsel gemacht.”

Aus dem Polnischen von Friedrich Griese

Einwanderung

Von der Krise und den estnischen Geflügelrupfern

„Sind die Esten an der Irlandkrise mitverantwortlich?“, fragtPostimees. Und auch wenn das estnische Tagesblatt die Bezeichnung „verantwortlich“ für übertrieben hält, so ist die Frage berechtigt. Vor einigen Jahren sind zahlreiche aus Mittel- und Osteuropa stammende Gastarbeiter nach Irland gekommen, wo das „Wirtschaftswunder“ der 1990er Jahre im Baugewerbe und der Landwirtschaft für Arbeitsplätze und recht gute Gehälter sorgte. Die Arbeiter brauchten ein Dach über dem Kopf. Damals begannen die Iren, zu günstigen Bankkrediten Immobilien zu kaufen, um diese zu vermieten. „So haben unsere ‚Geflügelrupfer‘ ohne es zu wissen den Grundstein für die Probleme mitgelegt, mit denen Irland heute zu kämpfen hat“, schlussfolgert Postimees.

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