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Immigrationsdebatte: Populismus über Fakten

David Camerons Entscheidung, Migranten den Anspruch auf Sozialleistungen zu verwehren, verrät seinen Mangel an Zivilcourage und seine Neigung zum Populismus. Er sollte besser den Tatsachen ins Auge blicken und zugeben, dass die britische Wirtschaft Migranten braucht, meit der Leitartikler von European Voice.

Veröffentlicht am 2 Dezember 2013 um 13:20

Großbritanniens Premierminister David Cameron bekommt es mit der Angst zu tun und verfällt in Panikmache. Ein äußerst unerquickliches Schauspiel. Angst hat er vor der UK Independence Party, einer migrationsfeindlichen, euroskeptischen Partei, die bei der Europawahl im Mai voraussichtlich gut abschneiden wird. Bei seiner Unkerei geht es um Immigration, insbesondere um die Einwanderung anderer EU-Bürger nach Großbritannien.

Der Premierminister kündigte diese Woche die Einführung von Bedingungen an, die es Migranten aus anderen EU-Ländern in Großbritannien erschweren würden, Ansprüche auf Sozialleistungen zu stellen. Er behauptete, diese Beschränkungen seien vergleichbar mit denjenigen, die in anderen EU-Staaten angewendet werden, und entsprächen dem EU-Recht. Falls diese Bedingungen die Prüfung der Europäischen Kommission bestehen, dann ist das ja schön und gut. Doch was die Grenzen des gesunden Menschenverstands oder des guten Geschmacks übersteigt, sind die abgedroschenen Phrasen und die falschen Informationen, mit welchen Cameron seine Ankündigung vorstellte.

„Gefühlvoller Populismus”

In einem Artikel der Financial Times – einer Zeitung, die bekannterweise nicht vor Nuancen zurückscheut – verkündete Cameron, dass die Bevölkerung von Rumänien und Bulgarien ab dem 1. Januar „dasselbe Recht auf Arbeit in Großbritannien haben wird wie andere EU-Bürger“. Weiter erklärte er: „Ich weiß, dass viele sehr beunruhigt über die Auswirkungen sind, die dies auf unser Land haben könnte. Ich teile diese Bedenken.“ [[Früher, als Premierminister weniger zu gefühlvollem Populismus neigten oder mehr Zivilcourage besaßen, hätten sie diese Bedenken thematisiert – oder wären ihnen sogar entgegengetreten – doch Cameron teilt sie nur]].

Es fängt schon damit an, dass er sie falsch darstellt. Er verwechselt vorsätzlich die Bedenken über den Anspruch der Rumänen und Bulgaren auf Sozialleistungen mit ihrem Recht auf Arbeit. Hier muss eine wichtige Unterscheidung getroffen werden, kursieren doch gefährliche Phrasen über den „Sozialtourismus“. Die verfügbaren Zahlen weisen darauf hin, dass Migranten aus anderen Teilen der EU Nettobeitragszahler zum britischen Steuer- und Sozialleistungssystem sind (und die britische Regierung bringt nur langsam gegenteilige Beweise vor).

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Die Kirche im Dorf lassen!

Doch ohne die verdeckten Anspielungen auf die Sozialleistungsansprüche klingen Camerons Einwände gegen ausländische Arbeitskräfte gefährlich nach „britische Arbeitsplätze für britische Arbeiter“ – eine Parole, die mehr von Chauvinismus als von wirtschaftlichem Sinngehalt zeugt. Die harte Wahrheit ist, dass Großbritannien Migranten braucht. Ohne Migranten hat die Wirtschaft zu kämpfen, vor allem wenn – wie Cameron selbst zugibt – die einheimischen Arbeitskräfte unqualifiziert sind. Doch das von ihm angeführte Argument, die Regierung investiere (verspätet) in die Ausbildung, gibt ihm nicht freie Hand, die gegenwärtigen Migranten zu verurteilen.

[[Cameron erkennt vielleicht, dass es seiner Argumentation an intellektueller Substanz fehlt]], und plädiert für eine Überarbeitung der EU-Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, die seiner Aussage nach zum „Auslöser für eine starke Bevölkerungsmigration“ geworden ist. Dies könnte kaum krasser im Gegensatz zu einer Rede stehen, die Herman Van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rats, kürzlich hielt: Er rief dazu auf, die Kirche im Dorf zu lassen, und betonte, dass für jeden arbeitenden Polen in London zwei Briten an der spanischen Küste leben. Er vertrat den freien Personenverkehr und forderte die führenden Politiker dazu auf, die Vorurteile „mit Fakten, mit Verstand, mit Überzeugung“ zu bekämpfen.

László Andor, EU-Kommissar für Beschäftigung und Soziales, bemüht sich lobenswerterweise, dies zu tun. Mehr Kommissare sollten seinem Beispiel folgen. Diese Eigenschaften legt Cameron leider nicht an den Tag. Statt dessen hat er sich auf einen Wettkampf eingelassen, den er nicht gewinnen kann – sogar seine Panikmache kann gar nicht schlimmer sein als die der UKIP und einiger noch weniger genießbaren Rechtsradikalen oder die mancher britischen Medien. Wenn Cameron wirklich über eine Reform der EU sprechen will, dann sollte er mit der Schwarzmalerei aufhören. Die politische Partei, die er anführt, verteidigte früher die Freiheiten der EU – diese Freiheiten sind es auch heute noch wert, verteidigt zu werden.

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