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Sattelt die Zugpferde

Bei all den politischen, sozialen und religiösen Wirrungen, die Europa plagen, plädiert der spanische Philosoph Fernando Savater für einen neuen Geist der Offenheit gegenüber Talenten, Ideen und Überzeugungen.

Veröffentlicht am 25 Dezember 2010 um 09:30

Eine der komischsten Opern von Rossini, Il viaggio a Reims [Die Reise nach Reims], handelt von Bürgern aus verschiedenen Ländern Europas, die in die französische Stadt Reims reisen wollen, um ein transzendentales Fürstenfest zu erleben. Auf dem Weg müssen sie in eine Herberge einkehren und sind gezwungen miteinander auszukommen, da sie keine Pferde haben, um die Reise fortzusetzen.

Dieses Libretto halte ich für eine hervorragende, ihrer Zeit vorauseilende Metapher für die Verunsicherung, welche die Europäische Union derzeit durchlebt. Den Ländern Europas bleibt wohl nichts anderes übrig, als in vielen grundlegenden Bereichen wie Soziales, Kultur und Wirtschaft zusammenzuarbeiten, aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, darüber hinaus weiter zu kommen und ehrgeizigere Ziele zu verfolgen, obwohl dies langfristig gesehen ebenso wichtig wäre.

Offensichtlich fehlt es an gemeinsamen Projekten, die als Zugpferde dienen könnten und nicht gezwungenermaßen auf Subsidiarität gründen, ebenso wie an geteilten demokratischen Überzeugungen und Werten.

Die wichtigsten Amtsträger in der EU zeigen deutlich, dass unsere Mitgliedsstaaten nicht gewillt sind, auf eine starke Führungskraft für das gemeinsame Werk zu setzen. Lieber ziehen sie Persönlichkeiten mit schwachem bis moderatem Profil vor, die in der Lage sind, den Konsens herzustellen... oder bestenfalls mit ihm zu leben. Und es zeichnet sich immer mehr die These ab, dass die Bürger Europas sich gar keine Union mit einem energischeren und entschlosseneren Charakter wünschen.

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Lange dachten wir: Spanien ist das Problem, Europa die Lösung.

Vielen Spaniern aus meiner Generation fällt es schwer, diese Haltung nicht als komfortables Scheitern anzusehen: es ist die reinste Frustration. Wir, die wir während der franquistischen Diktatur jung waren, hegten vielleicht einen etwas naiven Enthusiasmus für Europa, der sich treffend zusammenfassen lässt mit einem Zitat des Philosophen Ortega y Gasset: „Spanien ist das Problem, Europa die Lösung.“

Aber diese Lösung scheint mittlerweile ziemlich weit entfernt von den hehren Erwartungen, die sie weckt. Wir akzeptieren heute zweifelsohne, dass Europa und die Europäische Union zwar eine Lösung sein können, aber nicht irgendein Europa und nicht irgendeine Union, sondern nur ein Europa, das den Anforderungen von heute entspricht, die ernsthaft bedroht zu sein scheinen, wenn nicht sogar gänzlich aussichtslos.

Ich bin weiterhin der Ansicht, dass ein lohnenswertes Europa eines sein muss, das seine Bürger schützt und vertritt und nicht seine Länder. Ein Europa, das vielmehr die politischen Rechte (aber natürlich auch die Pflichten) und die Rechtssicherheit schützt, als die Privilegien und die hehren Traditionen, die es für gewöhnlich gegenüber Fremden abschottet. Ein Europa, das die Integrität der gegenwärtigen demokratischen Rechtsstaaten anerkennt gegenüber den zersetzenden ethnischen Forderungen, die immer schon rückständig und xenophob waren.

Die „großen Anderen“ dürfen nicht zum Festmahl

Ein Europa der Freiheit und der Solidarität, das sich weder verschließt vor denjenigen, die wegen politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Not um Einlass bitten, noch eines, das nur auf die eigenen Vorteile bedacht ist, sondern ein Europa, das offen ist und gewillt zusammen zu arbeiten, sich gegenseitig zu helfen und Werte zu teilen. Ein Europa der rationalen Gastfreundschaft.

Diese Europäische Union braucht europeístas, kämpferische Europäer, die den kurzsichtigen europäischen Politikern die Stirn bieten. In allen Ländern – in der Tschechischen Republik und anderen osteuropäischen Ländern, aber auch in Großbritannien und Irland und sogar in Frankreich – haben nationalistische Politiker und Gruppen Auftrieb. Sie alle predigen nach außen einen strengen Protektionismus und propagieren nach innen einen extremen Liberalismus. Dazu kommt eine Hooligan-Mentalität mit althergebrachten Werten, die vor allem die ausschließenden Aspekte betont, um den „großen Anderen“, den sie so fürchten, vom Festmahl auszuschließen.

Das heißt, sie verstehen sich nur dann als Europäer, wenn es ihren engstirnigen (und in der Tat sehr christlichen) Interessen nützt. Dieser Integrismus begreift die europäischen Wurzeln sehr selektiv und stützt sich auf die konservativste und verschlossenste aller Traditionen, nämlich eine, die vor allem reich an polemischen Widersprüchen ist.

Die Frivolität des guten multikulturellen Gewissens

Es besteht aber noch eine andere Gefahr: die der Frivolität des guten multikulturellen Gewissens, die dem ausschließenden Christentum diametral entgegengesetzt ist, und zwar nicht im Namen der laizistischen Demokratie, sondern um ein anderes religiöses Dogma zu propagieren, das sich ebenfalls als über den bürgerlichen Gesetzen stehend begreift und sich sogar noch als besser wähnt, als die westliche Ausgabe der Menschenrechte.

Ein wünschenswertes Europa wäre das, in dem die religiösen oder philosophischen Überzeugungen eines jeden Bürgers Recht sind, aber keines Menschen Pflicht und noch viel weniger eine allgemeine Verpflichtung der Gesellschaft als Ganzes. Ein radikaler und konsequent laizistischer Raum – was nicht gleichzusetzen ist mit unreligiös – wo die bürgerlichen Werte über jedweder ethnischen oder kulturellen Orientierung stehen und wo es eine klare Trennung gibt zwischen dem, was einige für Sünde halten und dem, was wir alle als Verbrechen verurteilen müssten.

Ein Europa, dessen akademischer und universitärer Raum die Mobilität für Studenten und Professoren ermöglicht, wo aber die Hochschulen nicht im Dienste unternehmerischer Interessen stehen, die sich sofort auszahlen. Ein Europa der Talente ohne Grenzen und nicht ein Europa der Abrechnungen und der Gewinnmaximierung.

Ja, wir brauchen Zugpferde, die uns voranbringen, aber genauso braucht es gute Lenker, die wissen, wohin die Reise gehen soll. Ich glaube, dass es für dieses Europa noch nicht zu spät ist.

Aus dem Spanischen von Ramona Binder

In Zusammenarbeit mit dem Spiegel-Online

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