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Lerne in Würde zu altern

Europa ist an einem Scheideweg angelangt, aber es hat noch seinen Reiz. Es sollte sein politisches, soziales und wirtschaftliches Modell mit der Welt teilen, schreibt Paweł Świeboda.

Veröffentlicht am 26 Dezember 2010 um 09:23

Europa befindet sich in der Krise, doch zum Glück riecht die Luft nicht nach Schießpulver, wie vor 60 Jahren. Das europäische Projekt hat über die Jahre seiner sorgfältigen Errichtung hinweg eine eigene Robustheit entwickelt, es mildert unterschwellige Spannungen und Empfindlichkeiten. Derzeit ist der Moment kritisch, und zwar nicht etwa weil die Wirtschaft in Schwierigkeiten steckt, sondern weil das Zusammensein an Glanz verloren hat. Europa mag rational gesehen die perfekte Lösung bleiben, doch der Schwung der Begeisterung ist weg.

Das Problem ist sowohl psychologisch als auch real. Psychologisch, weil Europa an Boden verliert – seine Politik ist auf Krisenmanagement ausgerichtet und federt den Schlag ab. Der Modus ist defensiv.

Europa spielt den Youngster anstatt zu seinem Alter zu stehen

Einem Sterblichen in der Midlife-Crisis wird gewöhnlich zweierlei geraten: Entweder er findet bessere Wege der Stressverarbeitung, gibt den Alkohol auf und fängt mit Yoga an – oder er gesteht sich ein, dass er nicht mehr der Jüngste ist und nutzt die Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen und seinem Leben vielleicht eine andere Richtung zu geben, seine Interessen zu erweitern, zu reisen, etwas Neues zu lernen, einen neuen Sport auszuprobieren, seinen Kindern oder Enkelkindern beim Großwerden zu zusehen...

Bis jetzt hat Europa die beiden oben genannten Möglichkeiten vermieden, unterzieht sich immer wieder Verjüngungstherapien und spielt den ewigen Youngster. Das war auch die Logik hinter dem Vertrag von Lissabon und der Klimaagenda. Und wenn erst das europäische System der makroökonomischen Steuerung auf eine engere finanzpolitische Koordination hin ausgerichtet und überarbeitet wird, dann müssen strukturelle Herausforderungen in Angriff genommen werden, so etwa die im Umbruch begriffene Demografie des Kontinents.

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Obwohl es immer eine gute Idee ist, sich zu bewegen, ist das Europa, von dem ich träume, mit sich selbst im Reinen. Wir sollten uns keine Illusionen machen. Außer im Fall einer größeren Katastrophe wird Europa für China, Indien und andere aufstrebenden Länder einen Platz einräumen müssen. Im Jahr 1900 besaß es noch einen Anteil von 25 Prozent an der Weltbevölkerung, im Jahr 2050 werden es voraussichtlich nur noch fünf Prozent sein – unter diesen Bedingungen kann es nicht einfach denselben Einfluss behalten.

Mal von der Außenwelt lernen?

Es wäre auch hilfreich, wenn wir wahrhaben könnten, dass wir eine ganze Menge von der Außenwelt lernen können. Man ist sich in Europa einig, dass das Wachstum aus Innovation und unternehmerischen Initiativen herrühren muss. Und was die Verbesserung unserer Wachstumsinfrastrukturen, vor allem der Universitäten, und die Fortschritte in der Kommerzialisierung des Wissens betrifft, können uns Länder wie Singapur, Australien oder die USA viel beibringen.

Das soll jetzt nicht heißen, dass wir müßig herumsitzen und zusehen sollen, wie andere ins Rampenlicht springen. Es geht eher darum, uns auf einen langen Marsch vorzubereiten, bis die Kraft und Ausdauer unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modells in den Vordergrund rücken, während andere sich überspannen und auf Grund laufen. Europa besitzt einige der besten Steuerungsmodelle in Gesundheitsversorgung und Sozialpolitik: Sie werden unsere besten Karten sein, während man anderswo auf der Welt mit den steigenden Erwartungen der Bevölkerungen und der Wähler sowie mit den sich entwickelnden demografischen Tendenzen rechnen müssen wird.

Binnenmarkt - die europäische Erfolgsstory

Europa sollte sich wieder auf das Wesentliche besinnen – das Wachstum der Kernländer. In innenpolitischer Hinsicht bedeutet dies vor allem die maximale Nutzung des EU-Binnenmarktes. Blickt man zurück, ist dieser ganz deutlich eine der großen europäischen Erfolgsstorys. Dennoch wurden schockierend viele Hindernisse und Barrieren errichtet, die ihn davon abhalten, eine optimale Auslastung zu erreichen. Mehr als die Hälfte der europäischen Unternehmer berichten von Schwierigkeiten beim Vertrieb von Gütern in anderen Mitgliedsstaaten, ganz zu schweigen von Dienstleistungen oder Kapitalflüssen. Es ist Zeit, zu kontern.

Zum Wesentlichen gehört es auch, unseren Werten treu zu bleiben und an der Verbesserung der europäischen politischen Systeme zu arbeiten. In Krisenzeiten ist der Zustand der Demokratie gewöhnlich das letzte, das die Leute interessiert. Und doch könnte viel getan werden, um die Welt der öffentlichen Rechenschaftslegung und Verantwortung in Europa zu modernisieren. Von den vielen Arten, wie Europa seinen Einfluss ausüben kann, ist seine Position als attraktives Governancemodell eine der nachhaltigsten und effektivsten. Wir sollten dies begrüßen.

Am Leben in einer diversifizierten Welt ist nichts auszusetzen

Weiter geht es beim Besinnen auf das Wesentliche darum, unsere Aufmerksamkeit erst auf unsere Nachbarn und Beitrittskandidaten zu lenken. Die eindrucksvollen Fortschritte von Ländern wie der Türkei bieten eine Gelegenheit für die Union, ihre Macht durch ihre Nachbarn zu konsolidieren. Die EU-Mitgliedschaft ist in Ankara immer noch die begehrteste Trophäe, wenn auch ganz offensichtlich nicht die einzige. Die EU wird in den Beitrittsverhandlungen mit dem muslimischen Staat bald keine neuen Kapitel mehr eröffnen können. Der Moment der Wahrheit rückt also immer näher und wir würden es bitter bereuen, ihn zu verpassen.

An einem Leben in einer zunehmend diversifizierten Welt ist nichts auszusetzen. Als ich mehrere Jahre lang in London lebte, dachte ich an die Bemerkung von Dean Acheson, Großbritannien habe ein Imperium verloren und keine neue Rolle gefunden. Diese Bemerkung, die in Großbritannien heute noch nachklingt, könnte nun auch auf Europa angewendet werden. Und genau wie Großbritannien, das ganz gut ohne sein Imperium zurechtkommt, wird auch Europa ohne ein Reich der großen Ideen zurechtkommen.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

In Zusammenarbeit mit dem Spiegel-Online

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