Thessaloniki (Griechenland), Mai 2011: eine Demonstration der "Verzweifelten vom Weißen Turm".

Die „Wir zahlen nicht“-Revolte

Angesichts der rauen Realität unbezahlter Löhne, bankrotter Unternehmen und Massenarbeitslosigkeit reagieren immer mehr Griechen mit zivilem Ungehorsam. Steckt Griechenland mitten in einem Paradigmenwechsel? Der Guardian berichtet aus Thessaloniki.

Veröffentlicht am 5 August 2011 um 16:13
Thessaloniki (Griechenland), Mai 2011: eine Demonstration der "Verzweifelten vom Weißen Turm".

Unter den schicken Bars entlang der historischen Uferpromenade von Thessaloniki sticht ein Lokal heraus. „Wir wollen unser Geld!“ heißt es auf einem Transparent, das an der Terrasse des Grillrestaurants im amerikanischen Stil hängt. Drinnen haben zwölf Angestellte die Schlösser ausgewechselt, schenken Dosenbier aus dem Supermarkt an ihre Unterstützer aus und schlafen nachts abwechselnd auf dem Boden des Restaurants – aus Protest gegen die plötzliche Schließung des Restaurants und die seit Monaten nicht bezahlten Löhne. Das ist das neue Symbol für die Spirale der griechischen Schuldenkrise: Hausbesetzung durch Bedienungspersonal.

Margarita Koutalaki (37), eine leise sprechende Kellnerin, geschiedene Mutter einer elfjährigen Tochter, hat hier acht Jahre lang in Teilzeit gearbeitet und rund 6,50 Euro pro Stunde verdient. Jetzt schläft sie abwechselnd mit den anderen auf einer Luftmatratze in einem Raum im Obergeschoss und bewacht das besetzte Haus, während ihre Eltern auf das Kind aufpassen.

„Die schulden mir rund 3000 Euro unbezahlten Lohn“, sagt sie und weist darauf hin, dass Legionen von Arbeitern in ganz Griechenland, die seit Monaten auf ausstehende Zahlungen von sich abmühenden Geschäftsinhabern warten, ihr missliches Los teilen. „Zuerst wurde uns gesagt, wir würden nächsten Monat bezahlt, dann gab es gar kein Geld mehr und es wurde uns telefonisch mitgeteilt, dass das Restaurant schließt. Wir arbeiten immer noch, wir halten das Lokal am Laufen, wir bieten unseren Unterstützern Essen und Getränke an. Wir haben mehr Kunden als früher. Dieser Protest ist alles, was wir tun können, und das fällt uns leicht.“

Souvlaki „zur Unterstützung der Arbeitnehmer“

Die Angestellten servieren einer neuen Kundschaft von Linken und Protestlern aus der vier Monate alten „Empörten“-Bewegung günstige Getränke und Billigmahlzeiten. Früher hätten diese Leute nie auch nur einen Fuß in diese Bastion des Imperialismus, die griechische Franchise des US-Riesen Applebee’s gesetzt. Ein Plakat auf Englisch lockt Touristen mit billigen Souvlaki und Hackfleischbällchen, „zur Unterstützung der Arbeitnehmer“.

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Vor einem Monat war Griechenland durch einen Generalstreik infolge harter Sparmaßnahmen lahmgelegt, mit Massendemonstrationen auf den Straßen und laufenden Gefechten zwischen Polizei und Protestlern auf dem Athener Syntagma-Platz.

Die Griechen sind argwöhnischer denn je gegen ihre Politiker und deren Fähigkeit, sie aus der lähmenden Finanzkrise zu führen. Umfragen zeigen zunehmende Verachtung für alle Parteien sowie für das verrufene politische System. Die Arbeitslosigkeit hat ein Rekordhoch von 16 Prozent erreicht – bei der Jugend liegt sie noch viel höher. Wer sich so glücklich schätzen darf, überhaupt noch einen Job zu haben, musste drastische Lohnkürzungen und Steuererhöhungen hinnehmen.

Die Offensive als reinste Form der „Macht des Volks“

Ärzte und Krankenschwestern legten kürzlich wegen Streichungen bei den Krankenhäusern die Arbeit nieder. Taxifahrer behinderten Griechenland in den letzten beiden Wochen durch Streiks aus Protest gegen die Regierungsvorhaben zur Erschließung der Industrie. Zu ihren Taktiken gehörte das Blockieren der Häfen und die Öffnung der Kassen an der Akropolis, wo die Touristen umsonst eingelassen wurden.

Entscheidend ist, dass sich die seit längerer Zeit anhaltende griechische Bewegung des „zivilen Ungehorsams“, bei der sich ganz normale Bürger weigern, für irgendetwas zu zahlen – ob Straßenzoll, Busfahrkarte oder zusätzliche Arztgebühren –, in den Sommerferien nicht totgelaufen hat. Die „Wir zahlen nicht“-Offensive wird als die reinste Form der „Macht des Volks“ verteidigt. Ihre Veranstalter kündigen an, sie könne im September mit neuer Kraft aufleben, wenn die Regierung eine neue Runde finanzieller Einschnitte startet.

Auf der Hauptverkehrsstraße von Athen nach Thessaloniki reihen sich die Autofahrer nach einem Sonntag am Strand in die Autoschlange nach Thessaloniki ein, während zahlreiche Zivilisten mit Sicherheitskleidung in Leuchtorange an den Schranken zur wichtigsten Mautstraße in die zweitgrößte griechische Stadt Wache stehen. Auf ihren Westen steht „Totaler Ungehorsam“. Sie schieben die rot-weißen Schranken beiseite und winken die Autofahrer durch, ohne dass sie die 2,80 Euro Gebühr zahlen müssen. Auf ihren Plakaten liest man: „Wir zahlen nicht“ und „Wir geben ausländischen Bankern kein Geld“. Die Autofahrer fahren dankbar durch, manche erheben zustimmend den Daumen.

Regierung kritisiert „Schmarotzer“-Mentalität

„Im Herbst wird der zivile Ungehorsam wieder aufflammen“, sagt Nikos Noulas, ein Bauingenieur aus Thessaloniki, in einem Café im Stadtzentrum und breitet eine Reihe von Plakaten aus, die die Zahlungsverweigerung ankündigen.

Bis zum Jahresbeginn florierte die Bewegung: In Athen weigerte man sich, für die U-Bahn zu zahlen, wobei Protestierende die Fahrkartenautomaten mit Plastiktüten überzogen, in Thessaloniki wurden lange Zeit die Bustickets boykottiert, nachdem die staatlich subventionierten Privatunternehmen die Preise erhöhten. Andere weigern sich, ihre Fernsehgebühren zu zahlen.

Linksgerichtete Parteien beteiligten sich, was die Kampagne deutlicher sichtbar machte. Im März unterstützte mehr als die Hälfte der griechischen Bevölkerung das Konzept „Wir zahlen nicht“. Die Regierung kritisierte diese aus ihrer Sicht unverantwortliche „Schmarotzer“-Mentalität heftig: Die Nichtzahler brächten das Land in Verruf und den Staat um unverzichtbares Einkommen aus dem Verkehrswesen. Es wurden neue Gesetze über das Schwarzfahren eingeführt und die Polizei griff hart durch.

Der Gesellschaftskommentator und Autor Nikos Dimou erklärt: „Es ist der Anfang einer Spaltung zwischen den Griechen und ihren Politikern. Das haben alle diese Bewegungen gemeinsam: Es geht bei allen um einen Hass und eine Abscheu der politischen Klasse.“

„Griechenland ist aufgewacht“

In Thessaloniki, der zweitgrößten griechischen Stadt, laufen die Gemüter auf hohen Touren. Die Zelte der „Empörten“ auf dem Syntagma-Platz in Athen wurden Ende Juli mit Gewalt entfernt, doch die Festung an der alten Uferpromenade von Thessaloniki, der Weiße Turm, ist immer noch von Protestzelten umringt und in Transparente gehüllt, auf denen „Zu verkaufen“ und „Nicht zu verkaufen“ steht.

Nordgriechenland wurde von der Krise schwer getroffen. Unternehmen begannen zu schließen, lange bevor der Finanzcrash seine vollen Ausmaße erreichte. So viele Menschen können es sich nicht mehr leisten, regelmäßig mit dem Auto zu fahren, und so viele Firmen sind zum Stillstand gekommen, dass die Stadtverwaltung von Thessaloniki eine beträchtliche Verbesserung der Luftqualität in der sonst so verkehrsreichen Stadt feststellte. Wenn der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou am 10. September auf der berühmten internationalen Messe in Thessaloniki erscheint, um seine neuen Wirtschaftsmaßnahmen zu enthüllen, werden ihn Demonstrationen empfangen.

Die Protestierenden in Thessaloniki setzen Flashmobs ein, wobei unerwartet Menschenmengen vor Banken und öffentlichen Gebäuden aufziehen und demonstrieren. Das letzte Angriffsziel war das deutsche Konsulat, wo Dutzende von Demonstranten Slogans skandierten, das Straßenpflaster mit Farbe besprühten und verlangten, die Europäische Union solle mehr für Griechenland tun, während ihnen Polizisten in Zivil zusahen.

Am Weißen Turm sagt Antonis Gazakis, ein Sprach- und Geschichtslehrer, er sei beeindruckt, dass nun auch Neulinge vielzähliger politischer Gesinnungen von links bis rechts an den Protesten teilnehmen, die oft gar keine Verbindung zu politischen Parteien oder Erfahrung mit Protestaktionen besitzen. Alle haben sich in die Debatte darüber gestürzt, wie man das ändern kann, was sie als ein korruptes politisches und parlamentarisches System ansehen. „In Griechenland wird gerade politische Geschichte geschrieben“, sagt er. „Deshalb bleibe ich diesen Sommer hier. Das letzte Mal, als die Leute so auf die Straße gegangen sind, um eine Verfassungsänderung zu verlangen, war 1909. Das ist eine einmalige Gelegenheit, ein Paradigmenwechsel. Griechenland ist aufgewacht.“

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Brain Drain

Jugend verabschiedet sich vom Krisenland

Wie auch ihre portugiesischen, spanischen, irischen oder italienischen Altersgenossen kehren sich die jungen Griechen angesichts mangelnder Perspektiven und verheerender Schäden infolge der Wirtschaftskrise dem Ausland zu. Dem französischen Figaro zufolge „sind angeblich schon über 70.000 Griechen in die USA gezogen, über 15.000 sollen nach Deutschland, England und Frankreich ausgewandert sein“. „Nicht alle haben dieselben Chancen“, erklärt die Pariser Tageszeitung. „Sie wenden sich also an Profis. Immer mehr Headhunterbüros schlagen den Griechen vor, ihnen eine Tätigkeit im Ausland zu sichern. Die schwedische Firma Paragona inseriert vermehrt in der griechischen Presse oder im Internet und verspricht für alle beruflichen Kompetenzen einen entsprechenden Arbeitsplatz sowie ein gutes Einkommen.“

„Seit ein paar Monaten“, so Le Figaro weiter, erstickt das griechische Außenministerium in Anträgen zur Ausstellung oder Erneuerung von Reisepässen. ‚Das Telefon klingelt unaufhörlich, vor allem zur Zeit, alle wollen schnell weg. Es ist wie bei der Migrationswelle vom Anfang des 20. Jahrhunderts in Griechenland. Nur dass es weder Krieg noch Hungersnot gibt!’, erzählt ein Diplomat.“

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