Analyse Russland

Das Licht der Hoffnung leuchtet auch in Putins Russland

Im zweiten Winter, in dem Russland seinen unerbittlichen Krieg gegen die Ukraine führt, scheint Putins Regime unangreifbar zu sein. Trotzdem lebt die Zivilgesellschaft, wie die vielen Anhänger des Oppositionellen Alexej Nawalny und der Aktivismus der politischen Exilanten zeigen, meinen Andrej Soldatow und Irina Borogan, die selbst im Exil leben.

Veröffentlicht am 20 März 2024 um 11:49

Nach mehr als zwei Jahren Krieg gegen die Ukraine sind zwei Dinge überdeutlich geworden: dass es ohne einen Regimewechsel in Moskau keinen Frieden geben kann und dass selbst ein ukrainischer Sieg nur einer von vielen Faktoren ist, die zum Untergang von Putin Russland beitragen könnten.

In den letzten zwei Jahren hat sich Russland zu einem erschreckend starken Regime entwickelt. Die russische Armee hat sich voll und ganz auf die Kriegsführung eingestellt, auch auf Kosten massiver menschlicher und materieller Verluste. Die Truppen verrotten in den Schützengräben, es herrscht eine Art institutionalisierte Brutalität des Offizierskorps gegenüber den Soldaten, und die Notlage der Zivilbevölkerung wird genauso missachtet wie die Kriegsgesetze.  

Die Sicherheitsdienste haben sich nach der Demütigung im Frühjahr 2022 neu formiert und frischen Elan für das gefunden, was sie als „dritte Runde” ihres Kampfes gegen den Westen betrachten (in Bezug auf frühere Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert).

In Russland sind die Armee, die Rüstungsindustrie und die Sicherheitsdienste eng mit der Zivilgesellschaft verwoben. Sie tragen zum plötzlichen Wohlstand der ärmsten Regionen Russlands bei, indem sie dort viel Geld für die Rekrutierung neuer Soldaten sowie für die Entschädigung gefallener Soldaten zahlen. 

Die Sicherheitsdienste haben ihre Techniken perfektioniert, um Angst unter den Bürgern und den Bürokraten zu verbreiten. Die Menschen haben alte Gewohnheiten aus Sowjetzeiten wieder aufgenommen, wie zum Beispiel nur unter vorgehaltener Hand über Krieg und Politik in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Cafés zu sprechen.

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In den letzten zwei Jahren hat Putin den Russen reichlich Grund zur Annahme gegeben, dass er noch immer über zahlreiche Maßnahmen verfügt, um die Lage eskalieren zu lassen oder aber die Repression noch weiter zu verstärken. Der am 16. Februar bekannt gegebene Tod von Alexej Nawalny ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass Stalins Gulag-Methoden heute wieder erfolgreich vom Kreml eingesetzt werden. 


Trotz des schrecklichen Drucks, der Verhaftungen und der Verfolgung Andersdenkender hat die russische Zivilgesellschaft überlebt


Die zwei Jahre Krieg zeigen auch, dass wir alle wohl die falschen Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gezogen haben. Die weitverbreitete Meinung damals war, dass die militärische Niederlage im Afghanistankrieg zum Zusammenbruch der UDSSR beigetragen hat, weil die gedemütigte Armee und der KGB in einer Art Schockstarre nur darauf warteten, dass die demokratischen Kräfte in den Sowjetrepubliken Ende der 1980er-Jahre die Macht übernehmen.

Doch die Realität war viel komplexer. Der KGB unterstützte die Perestroika aktiv, weil die Sicherheitsdienste die Kontrolle des Landes durch die Kommunistische Partei beenden wollten. Als die Reformen für den Geschmack der Lubjanka-Generäle zu weit gingen, versuchten sie, Gorbatschow zu stürzen und Jelzin abzusetzen, was jedoch misslang.

Als Jelzins Demokraten wiederum den Gegenputsch wagten, gelang es dem KGB, die Aufmerksamkeit von sich auf die Kommunistische Partei zu lenken (wenn dies in Ostdeutschland geschehen wäre, wäre die deutsche Kommunistische Partei strafrechtlich verfolgt worden und die Stasi intakt geblieben).


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Es stimmt, dass die Sowjetarmee durch den Rückzug aus Afghanistan 1989 gedemütigt wurde, aber die politische Rolle des Militärs blieb auch in den turbulenten 1990er-Jahren beträchtlich. Nicht umsonst wählte Jelzin General Alexander Ruzkoi zu seinem Vizepräsidenten, denn dieser Offizier erfreute sich aufgrund seiner Leistungen in Afghanistan großer Beliebtheit. Sechs Jahre später, bei den Präsidentschaftswahlen, war Jelzins wichtigster politischer Konkurrent Alexander Lebed - wieder ein General und ebenfalls ein Held des Afghanistankrieges, was zeigt, dass selbst ein katastrophaler und demütigender Krieg die politische Macht der Generäle nicht auslöscht. 

Auch die Generäle von heute wissen genau, dass sie umso wichtiger werden, je mehr der Krieg die Gesellschaft verschlingt.  Auch die Sicherheitsdienste werden ihre Macht nicht einfach aufgeben, denn für sie geht es ums Überleben.

Um die Unterstützung der Gesellschaft für den Krieg zu gewinnen und aufrechtzuerhalten, nutzt Putin die niedersten Gefühle der Bevölkerung - Fremdenfeindlichkeit gegenüber Ukrainern, Gier unter den Söldnern und ihren Familien und Hass - insbesondere gegen Schwule und Liberale - das alles verstärkt durch eine gewaltige Portion Angst.  

Er hat sich zum Ziel gemacht, die Seele des russischen Volkes zu korrumpieren, und er war dabei auf bedrückende Weise erfolgreich.

Was daraus folgt? Dass ein Großteil der Bevölkerung Angst haben wird, wenn die Zeit für einen Regimewechsel gekommen ist. Einen Wechsel, den sie vermutlich nicht unterstützen werden, weil sie sich mitschuldig gemacht haben und es unmöglich wird, Außenstehenden die Schuld zu geben. Sie werden mit dem Finger auf die Politik, die Sicherheitsdienste oder den Diktator zeigen und sich weigern, ihre Verantwortungen für diesen Krieg zu tragen. 

Das ist eine bittere Erkenntnis, aber es gibt auch eine gute Nachricht.

Trotz des schrecklichen Drucks, der Verhaftungen und der Verfolgung Andersdenkender hat die russische Zivilgesellschaft überlebt. Die Tausende, die Blumen für Nawalny niedergelegt haben, sind eine offene Herausforderung für die Behörden, die jederzeit beschließen könnten, sie für ihren Widerstand ins Gefängnis zu werfen.

Die russische Zivilgesellschaft lebt außerdem auch im Exil weiter. Es gibt viele Verbindungen zwischen den Emigranten (eine Million oder mehr) und den Daheimgebliebenen, und trotz aller Bemühungen des Kremls ist es nicht gelungen, diese zu unterbrechen. Die Internetzensur wurde verschärft, die Oppositionellen wurden eingeschüchtert und verfolgt, aber das alles hat nicht gereicht.   

Mitten in diesem langen dunklen Kriegswinter ist es schwer, sich eine hellere Zukunft vorzustellen. Und doch gibt es Hoffnung innerhalb der russischen Bevölkerung. Letztlich liegt die reale und nachhaltige Möglichkeit einer besseren Zukunft in Russland und eines dauerhaften Friedens in Europa in der Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft, sowohl im Inland als auch im Ausland.

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