Das Rätsel um Princess Hijab

Inmitten der erhitzten Debatten um die nationale Identität und das Burkaverbot erreichten die Entstellungsinterventionen der Graffitikünstlerin Princess Hijab auf Werbeplakaten in der Pariser Metro weltweite Bekanntheit. Doch wer ist sie? Ist es überhaupt eine Sie? Und ist das wichtig?

Veröffentlicht am 12 November 2010 um 16:32

Princess Hijab ist die am schwersten zu fassende Straßenkünstlerin von Paris. Sie schlägt nachts zu, mit tropfender schwarzer Farbe, und klatscht schwarze muslimische Schleier auf die halbnackten, retuschierten Frauen – und Männer – der Klamottenwerbungen in der Metro. Sie nennt es „Hijabisieren“. Ihre Guerilla-Niqab-Kunst wurde von New York bis Wien zur Schau gestellt und löste Debatten über Feminismus und Fundamentalismus aus – und es weiß immer noch niemand, wer sie eigentlich ist.

Im religionsneutralen, republikanischen Frankreich ist kaum ein visueller Gag aussagekräftiger als die auf Werbeplakate gekritzelten Graffiti-Schleier. Das kürzlich von der Sarkozy-Regierung beschlossene und im Oktober verabschiedete Burkaverbot sieht vor, dass es ab 2011 für Frauen illegal sein wird, in der Öffentlichkeit muslimische Schleier zu tragen, die das Gesicht komplett verhüllen. Und dies nicht nur in Ämtern oder öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch auf der Straße, im Supermarkt und in Privatunternehmen. Der Regierung zufolge sei dies ein Mittel, die Rechte der Frauen zu schützen, und sie könnten somit nicht mehr von Männern gezwungen werden, ihr Gesicht zu verbergen.

Ist die Princess also eine hidschabtragende französische Muslimin, die gegen das System wütet? Das wäre allerdings eine Seltenheit in der von Männern dominierten Pariser Graffiti-Szene. Ist sie eine religiöse Fundamentalistin, die ihre Ansicht zu nackter Frauenhaut vertritt? Sie lässt jedoch gerne ein witziges bisschen Po oder Taille sichtbar. Eine linke Feministin, die sich über die Ausnutzung der Frauen ausdrückt? Ist sie überhaupt Muslimin?

Princess Hijab trägt keinen Niqab

Die Prinzessin schlägt sich durch die Korridore der U-Bahn-Station Havre-Caumartin und blickt abschätzend auf die Werbeplakate an den Wänden. Sie hat sich zu einem Treffen bereit erklärt, während sie gleichzeitig die Stationen nach Objekten für ihre nächste „Niqab-Intervention“ auskundschaftet. Sie ist mit Leggings, Shorts und einem Kapuzenpulli bekleidet, das Gesicht durch lange schwarze Perückenhaare völlig verdeckt – eines ist sicher: Die Mittzwanzigerin trägt den Niqab, der ihre Signatur geworden ist, selbst nicht.

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Sie will nicht verraten, ob sie Muslimin ist. Es ist sogar mehr als wahrscheinlich, dass Princess Hijab gar keine Frau ist. Das Lachen ist ein bisschen tief, die Schultern ein bisschen breit. Doch die androgyne Silhouette in Schwarz will auch kein Geschlecht zugeben. „Die echte Identität hinter Princess Hijab ist unwichtig“, sagt die heisere Stimme hinter der Perücke. „Das konstruierte Selbst steht im Vordergrund und außerdem ist es eine künstlerische Entscheidung.“

„Ich habe damit angefangen, als ich 17 war“, erzählt sie (bleiben wir einfach beim „sie“, da die Figur weiblich ist, selbst wenn die Person dahinter es wahrscheinlich nicht ist). „Ich malte damals verschleierte Frauen auf Skateboards und andere plastische Stücke, bis ich das Gefühl hatte, dass ich mich jetzt der Außenwelt stellen wollte. Ich hatte Naomi Kleins ‚No Logo’ gelesen und das hat mich dazu gebracht, mich an öffentliche Orte und Werbeplakate heranzutrauen.“

Ihre Werke bleiben 45 Minuten, eine Stunde maximal

Den ersten Graffitischleier malte Princess Hijab 2006, bei der „Niqabisierung“ des Plakats für das Album der berühmtesten französischen Rapperin, Diam’s, die inzwischen durch eine merkwürdige Schicksalsfügung zum Islam übergetreten ist. „Es ist faszinierend, weil sie jetzt den Schleier selbst trägt“, sinniert die Princess. Anfänglich bemalte sie Männer, Frauen und Kinder, und stand dann herum, um die Reaktionen der Passanten zu beobachten. Heute schlägt sie zu und verschwindet gleich wieder. „Ich sehe schon, dass das die Leute unangenehm berührt, ich kann das auch verstehen. Da fährt man nach einem anstrengenden Tag nach Hause und plötzlich wird man mit diesem Thema konfrontiert.“

Da die Pariser Metro ihre Werbeflächen sehr schützt, bleibt ihre Arbeit heute meist nur 45 Minuten oder eine Stunde lang an der Wand, bevor sie von den Angestellten heruntergerissen wird. Sie ist höchst selektiv geworden und macht pro Jahr nur vier oder fünf „Graffiti-Interventionen“ in Paris. Doch jede von ihnen wird sorgfältig fotografiert und lebt im Internet weiter.

Warum sie das tut? „Ich benutze verschleierte Frauen als eine Herausforderung“, sagt sie – und setzt schnell dahinter, dass sie keine bestimmte Art, sich zu kleiden, für gut oder schlecht hält. Trotz ihrer bewussten Coolness und Losgelöstheit gibt es ein Thema, das sie wirklich bewegt – und vielleicht etwas über ihre wahre Identität verrät: der Platz der Minderheiten in Frankreich.

Mit Minderheiten-Graffiti die Straße erobern

Mehr noch als die Argumente für oder gegen die Verschleierung der Frauen, stigmatisierten Sarkozys neues Ministerium für „Immigration und nationale Identität“ sowie seine landesweite Debatte über die Bedeutung des Französischseins die bereits ghettoisierten Jugendlichen der dritten und vierten Generation der Einwandererfamilien. Frankreich hat den größten muslimischen Bevölkerungsanteil in Europa, doch die vorherrschende immigrantenfeindliche Haltung und das, was viele als ein gegenstandsloses Burkaverbot ansehen, verstärkte die Ausgrenzungsgefühle, die viele junge Muslime und Angehörige von Minderheiten verspüren.

Princess Hijab sieht sich selbst als Teil einer neuen Bewegung, die mit „Minderheiten-Graffiti“ die Straße zurückerobert. „Wenn es nur um das Burkaverbot ginge, hätte meine Arbeit keine sehr langfristige Resonanz. Doch ich glaube, das Burkaverbot hat das Thema der Integration in Frankreich global sichtbar gemacht“, sagt sie. Und weiter: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das ist ein Grundsatz der Republik, doch in Wirklichkeit hat sich das Thema der Minderheiten in der französischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren nicht wirklich weiterentwickelt. Die Außenseiter in Frankreich sind immer noch die Armen, die Araber, die Schwarzen und natürlich die Roma.“

H&M ist Lieblingsobjekt

Ihre Graffiti sind auch in ihrer konsumfeindlichen und werbungsentstellenden Haltung besonders französisch. Für sie hat das Aufmalen eines Schleiers auf ein Werbeplakat eine visuelle Tragweite, denn beide sind „Dogmen, die nicht in Frage gestellt werden können“. Sie hat den Eindruck, dass junge Frauen, die den Hidschab tragen und früher von den französischen Institutionen stigmatisiert wurden, heute als Mitglieder einer kaufkräftigen Zielgruppe betrachtet werden, als „perfekte Verbraucherinnen“ in Frankreichs zunehmend konsumorientierter Gesellschaft. Im Mittelpunkt ihrer nächsten Tour wird wieder ihr Lieblingsobjekt stehen: die Marke H&M. Schließlich pflastern deren Werbekampagnen die ganze Pariser Metro zu.

Die schwarz gemalten Niqabs scheinen also für alles außer Religion zu stehen. „Bin ich religiös?“ fragt sie, zögernd. „Das Geistige interessiert mich schon, aber das ist etwas Persönliches, ich glaube nicht, dass es sich auf meine Arbeit auswirkt. Religion interessiert mich, Muslime interessieren mich und auch der Einfluss, den sie haben können – in künstlerischer und in ästhetischer Hinsicht, in den Codes, die uns umgeben, vor allem im Bereich Mode“, überlegt sie.

Und mit diesen Worten zieht die Graffiti-Performancekünstlerin mit der Sporttasche über der Schulter ab, um ihre bizarre Verkleidung aus- und ihre Alltagskleidung wieder anzuziehen und sich im Tageslicht an der Oberfläche zu verlieren.

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

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