Catherine Ashton auf dem ASEAN Summit in Phnom Penh, Juli 2012

Dem Alten Kontinent geht es gut, danke (2/2)

Obwohl die Europäische Union mit Problemen wie ihrem geringen Bevölkerungswachstum und ihren internen Gegensätzen kämpft, verfügt sie noch immer über dynamische Kräfte. Zudem ist sie imstande, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, meinen Mark Leonard und Hans Kundnani.

Veröffentlicht am 13 Mai 2013 um 12:57
Catherine Ashton auf dem ASEAN Summit in Phnom Penh, Juli 2012

„Europa hat ein Demokratiedefizit.“

Nein, aber es hat ein Legitimitätsproblem. Skeptiker behaupten seit Jahren, dass Europa ein „demokratisches Defizit“ hat. Ihre Begründung: Die Europäische Kommission bestimmt zwar über die EU, wird aber nicht in freien Wahlen gewählt. Und die Befugnisse des Europäischen Parlaments sind schlicht und einfach unzureichend. Dabei werden die Mitglieder der Europäischen Kommission von direkt gewählten nationalen Regierungen ernannt, und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments direkt von den Stimmberechtigten gewählt.

Im Allgemeinen treffen die demokratisch gewählten Landesregierungen und das Europäische Parlament Entscheidungen auf europäischer Ebene gemeinsam. Anders als andere Staaten und selbst idealtypische Demokratien verfügt die EU über wesentlich mehr Kontroll- und Überwachungsmechanismen. Darüber hinaus müssen innerhalb der EU wesentlich größere Abstimmungsmehrheiten zustande kommen, um eine Rechtsvorschrift erlassen zu können. In der Europäischen Union gibt es also Demokratie im Überfluss.

Trotzdem hat die Eurozone ein viel grundlegenderes Legitimitätsproblem, für das vor allem ihre Konstruktion verantwortlich ist. Obwohl Entscheidungen von demokratisch gewählten Führungsspitzen getroffen werden, ist die EU im Wesentlichen ein technokratisches Projekt, das nach der „Monnet Methode“ arbeitet, die nach dem französischen Diplomaten Jean Monnet benannt ist. [Monnet ist] einer der Gründungsväter eines integrierten Europas. Seine Strategie der schrittweisen Integration – zunächst einmal eine Gemeinschaft für Kohle und Stahl, anschließend ein Binnenmarkt und schlussendlich eine Einheitswährung – riss immer mehr Bereiche aus dem politischen Wirkungskreis [der einzelnen Länder]. Und je mehr Erfolg dieses Projekt hatte, umso mehr schrumpften die Zuständigkeitsbereiche der nationalen Regierungen, und umso mehr Öl geriet ins populistische Feuer.

Um die gegenwärtige Krise zu lösen, entziehen die Mitgliedsstaaten und die Institutionen der EU dem politischen Wirkungsbereich [der Staaten] neue wirtschaftspolitische Befugnisse. Unter der Führung Deutschlands verpflichteten sich die Länder der Eurozone zur Einhaltung eines „Fiskalpakts“, der sie auf unbestimmte Zeit zu Sparmaßnahmen zwingt. Diese Vorgehensweise birgt eine reelle Gefahr: Sie könnte zu einer Demokratie ohne wirkliche Wahlmöglichkeiten führen. Dann würden die Bürger zwar in der Lage sein, Regierungswechsel herbeizuführen, könnten aber nichts am politischen Kurs ändern. Folglich heißt die Antwort: Ja, die europäische Politik hat ein Legitimitätsproblem. Und um es zu lösen, sollte vermutlich eher ein politischer Kurswechsel durchgeführt werden, als dem Europäischen Parlament noch mehr Befugnisse zu verleihen. Egal was skeptische Stimmen sagen – davon hat es schon ausgesprochen viele.

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„Europa ist im Begriff, von der demografischen Klippe zu stürzen.“

Ungefähr so geht es auch fast allen anderen. Die EU hat ein ernstzunehmendes demografisches Problem. Anders als die USA, deren Bevölkerung Prognosen zufolge bis 2050 auf 400 Millionen anwachsen wird, wird die Bevölkerung der EU laut dem Statistischen Amt der Europäischen Union von den derzeitigen 504 Millionen bis 2035 auf 525 Millionen ansteigen, danach aber schrittweise zurückgehen, und 2060 die 517-Millionen-Marke erreichen.

Ferner wird Europas Bevölkerung immer älter werden. Bereits ab diesem Jahr wird der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpfen: Momentan liegt er bei 308 Millionen Menschen und wird bis 2060 voraussichtlich auf 265 Millionen absinken. Folglich wird auch der Altersabhängigkeitsquotient (d. h. das Verhältnis der über-65-Jährigen zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter) ansteigen: Berechnungen zufolge von 28 Prozent im Jahr 2010 auf 58 Prozent im Jahr 2060.

Allerdings plagen diese demografischen Leiden keinesfalls nur Europa. Tatsächlich altern weltweit fast alle Großmächte. Und einige von ihnen sogar noch viel stärker als Europa. So wird das durchschnittliche Alter der Bevölkerung Chinas Prognosen zufolge von den derzeitigen 35 Jahren bis 2030 auf 43 Jahre ansteigen. Im Fall Japans steigt das Durchschnittsalter von 45 auf 52 an. In Deutschland von 44 auf 49. Großbritanniens Durchschnittsalter wird wiederum nur von 40 auf 42 anwachsen und gleicht so dem der USA, die eine der besten demografischen Perspektiven auszeichnet.

Bevölkerungsstatistiken werden Europa also in jedem Fall gehörige Kopfschmerzen bereiten. Auf kurze Sicht wird die Politik sich daran wohl oder übel die Zähne ausbeißen, aber Zuwanderung bietet die Möglichkeit, sowohl die Alterung, als auch die Schrumpfung der europäischen Bevölkerung zu lindern. Schließlich mangelt es nicht an jungen Menschen, die nach Europa kommen wollen. Mittelfristig könnten die Mitgliedsstaaten auch ihr Rentenalter heraufsetzen. Diese [Maßnahme] ist zwar mit politischen Problemen verbunden, ist momentan aber dennoch eine, der alle irgendwie gerecht werden müssen. Auf lange Sicht könnte sich zudem eine clevere familienfreundliche Politik als hilfreich erweisen: Kindergeld, Steuergutschriften und eine staatlich geförderte Tagesbetreuung könnte die Europäer dazu ermutigen, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Bei der Entwicklung von Lösungen für eine alternde Gesellschaft hat Europa im Vergleich zum Rest der Welt allerdings bereits die Nase vorn. Davon sollten sich die ergrauenden Chinesen vielleicht eine Scheibe abschneiden.

„Für Asien spielt Europa keine Rolle.“

Nein. Häufig hört man, und meist und besonders lautstark von Mahbubani aus Singapur, dass die EU zwar auch weiterhin für ihre Nachbarn von Bedeutung ist, für Asien aber keine Rolle spielt. Dabei wird diese Region im 21. Jahrhundert wohl am Wichtigsten sein.

Dabei ist Europa dort bereits längst vertreten. [Die EU] ist Chinas größter und Indiens zweitgrößter Handelspartner in der Welt. Zudem ist [die Europäische Union] der zweitgrößte Handelspartner des Verbandes Südostasiatischer Nationen (kurz ASEAN), sowie Japans drittgrößter und Indonesiens viertgrößter Handelspartner.

Als es darum ging, Sanktionen gegen Burma zu verhängen, und diese nach den von der Militärjunta eingeleiteten Reformen wieder aufzuheben, spielte Europa eine entscheidende Rolle. [Der alte Kontinent] versuchte stets, Konfliktsituationen zu lösen und zu vermitteln: [Beispielsweise] in der indonesischen Provinz Aceh und auf der Philippinen-Insel Mindanao. Auch wenn Europa noch keine siebte Flotte in Japan stationiert hat, spielen einige seiner Mitgliedsstaaten für die Sicherheit Asiens bereits eine wichtige Rolle. Die Briten verfügen über Militäranlagen in Brunei, Nepal und Diego Garcia, und Frankreich gehört ein Marinestützpunkt auf Tahiti.

Diese Art von Beziehung gibt es immer häufiger. Beispielsweise erklärte der japanische Regierungschef Shinzo Abe, der versucht, Abwechslung in Japans Sicherheitsbeziehungen zu bringen, er wolle dem „Fünf-Mächte-Verteidigungsabkommen“ (Five Power Defense Arrangement) beitreten, einem Sicherheitsvertrag, den unter anderem Großbritannien unterzeichnet hat. Darüber hinaus liefern Mitgliedsstaaten der Europäischen Union demokratischen Ländern wie Indien und Indonesien auch moderne Waffensysteme wie Kampfflugzeuge und Fregatten. Folglich kann wohl kaum behauptet werden, dass [Europa in Asien] keine Rolle spielt.

„Europa wird auseinanderbrechen.“

Für diese Diagnose ist es noch zu früh. Tatsächlich aber könnte ein europäischer Zerfallsprozess drohen. Dem harmlosesten Szenario zufolge würde ein Drei-Schichten-Europa entstehen, das sich aus dem Kern, der Eurozone, den „Noch-Nicht“-Mitgliedsstaaten wie Polen, und den „Aussteigern“ wie Großbritannien zusammensetzt. [Die „Noch-Nicht“ (pre-ins)] haben sich zum Beitritt zur Eurozone verpflichtet, [die „Aussteiger“ (opt-outs)] denken nicht einmal daran, die Einheitswährung einzuführen.

Dem furchtbareren Szenario zufolge wären einige Länder der Eurozone, beispielsweise Zypern oder Griechenland, gezwungen, die Einheitswährung aufzugeben. Andere EU-Mitglieder wie Großbritannien könnten die EU in diesem Fall ganz verlassen. Für die Ressourcen der EU und ihren Ruf in der Welt hätte dies selbstverständlich weitreichende Folgen. Sollte der Versuch, die Eurozone zu retten, dazu führen, dass die Europäische Union auseinanderbricht, wäre dies eine Tragödie. Doch sind sich die Europäer dessen sehr wohl bewusst. Und die Politiker wollen [dieses Szenario] auf jeden Fall verhindern.

Wie die lange Geschichte Europas wohl ausgehen wird, ist im Großen und Ganzen noch nicht vorherzusehen. Es geht eben nicht nur darum, zwischen mehr Integration und Auflösungsmechanismen zu wählen. Entscheidend wird sein, ob Europa den Euro retten kann, ohne die Europäische Union zu spalten. Wenn ihre Mitgliedsstaaten ihre Ressourcen zusammenlegen, wird ihnen die weltgestalterische Rolle zuteil werden, die sie neben Washington und Peking im 21. Jahrhundert verdienen. So kann der berühmte auf Amerika bezogene Ausspruch des Leitartiklers Charles Krauthammer auch für Europa angewandt werden: „Untergang ist eine Frage der Wahl“.

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