Gut, dass Heinrich Böll das Trauerspiel nicht mehr mitbekommt. Würde er heute nach Irland reisen, hätte er sich vermutlich nicht in dieses Land verliebt, diese sympathische Insel mit ihren gut vier Millionen Einwohnern, dieses Idyll der Armut, diesen Sehnsuchtsort einer menschlicheren Welt. Ausgerechnet dieses Irland hatte sich den Turbokapitalismus an seine Küsten geholt. Und war ihm nicht gewachsen. Böll hätte die Welt nicht mehr verstanden.
„Hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an“, schrieb er in den fünfziger Jahren auf einer Fähre nach Dublin. Die irische Reisegesellschaft um ihn herum bezauberte ihn, er romantisierte, dass es quietschte. „Armut war nicht nur ,keine Schande' mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war - als Moment gesellschaftlichen Selbstbewusstseins - so belanglos wie Reichtum; die Bügelfalten hatten ihre schneidende Schärfe verloren.“
Der Text floss später in sein berühmtes „Irisches Tagebuch“ ein, in die Beschreibung einer rechtschaffenen Gesellschaft, bescheiden, genügsam und irgendwie glücklich; ein Land, das sich trotz Hunger und Auswanderung und der Strenge der katholischen Kirche die Menschlichkeit bewahrt hatte.
Mit der Finanzblase platzte ein alter Traum der Deutschen
Damals, Mitte der Fünfziger, war das „Irische Tagebuch“ auch als Gegenentwurf zum rauen Nachkriegsdeutschland gedacht, zur Wirtschaftswunderzeit mit ihren neuen Götzen: Konsum, Wachstum, Kapital. Böll, der gute Mensch von Köln, und Irland, die gute Insel aus dem Norden, das passte zusammen. Schön war die Zeit. Bölls Insel war damals arm, aber nicht pleite. Heute ist es umgekehrt.
Mit der irischen Finanzblase platzt in diesen Wochen auch ein alter Traum der Deutschen. Wie kaum eine zweite Nation hatten sie die Insel in ihr Herz geschlossen. Böll waren viele Bundesbürger in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren nach Irland gefolgt und hatten die Insel zu ihrem Sehnsuchtsort erkoren - zumindest jene Deutschen, die sich nicht für Goa oder Ibiza interessierten. Irland kam ihnen reiner und ehrlicher vor als die Heimat, hier waren die Wiesen noch saftig, Konzerne nicht vorhanden und die Menschen noch nicht vom Wohlstand verdorben. Schöner, dachten die Deutschen, könne es nicht sein. Sie sangen das Lob auf die Rückständigkeit.
Dass die Iren selbst ihre Armut beklagten, verdrängten sie erfolgreich. Es galt den Traum von einem anderen Leben zu verteidigen, wenn es sein musste, auch gegen die Wirklichkeit. Noch heute weist die Statistik des irischen Tourismusbüros die Deutschen als treueste Besucher aus.
Wachwechsel: vom Katholizismus zur Kirche
„Europas soziale Ordnung“, hat in Irland erneut „andere Formen“ angenommen - wenn auch ganz andere als jene, von denen Böll einst schwärmte. Seit Wochen hält die Insel nun den Kontinent in Atem, bringt den Euro ins Wanken und mit ihm das Fundament der Gemeinschaft. Wie konnte aus dem verschlafensten Land Europas in kürzester Zeit diese Spielhölle werden, ein Paradies für Immobilienhaie, Investmentbanker und andere Finanzunwesen?
Bis Ende der Achtziger hatte das Mittelalter in Irland seine letzte Nische gefunden, fernab vom Rest des aufgeklärten Kontinents. Jahrzehntelang hatte die katholische Kirche ihre keltische Festung gegen den Ansturm der Moderne verteidigen können. Mit Beginn der Neunziger aber, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und mit Einsetzen der Globalisierung, musste die Kirche sich auch in Irland dem Wachwechsel fügen.
Auf den Katholizismus folgte der Kapitalismus. Im Moment einsetzender Orientierungslosigkeit bot er sich als neuer Leitstern an. Es dauerte nicht lange, bis Konsum und Gier, die Kultur der Effizienz ihren Kreuzzug auch in Irland vollendet hatten. Ende der Achtziger senkte die Regierung den Steuersatz für Unternehmen auf zehn Prozent, und diese Zahl wirkte wie ein Magnet auf Unternehmer in aller Welt.
Viele Banken gründeten Zweckgesellschaften in Irland, um die riskantesten Geschäfte aus ihren heimischen Bilanzen auszulagern. Um es ihnen noch angenehmer zu machen, schaute kaum jemand in den Docklands vorbei, erst recht nicht der Staat. Auf einmal hatte das züchtige Irland etwas von einem Bordell, einem Ort, zu dem man geht, um die schmutzigen Sachen zu machen, die man sich zu Hause nicht traut.
Zauberbranche Finanzindustrie
Dennoch schien die neue Entwicklung ein Segen für das Land zu sein. Die Insel brummte nun, und obendrein nährte die EU mit ihren Fördermilliarden die schöne Illusion, die harten Zeiten seien für immer vorbei. So wurde aus dem Armenhaus in kürzester Zeit eines der teuersten Länder Europas.
Wie überall auf der Welt, wo versucht wurde, natürliche Entwicklungen aufzuhalten, wo Dämme gegen die neue Zeit errichtet worden waren, brach sich auch in Irland die Moderne umso ungestümer Bahn. Die Neufreien sind da den Neureichen sehr ähnlich. Es ist kein Wunder, dass in Irland ähnliche Kapitalismusexzesse stattfanden wie bei den lange unterdrückten Völkern Osteuropas. Obwohl auf der Insel auch solide neue Unternehmen entstanden, setzten die politischen Eliten viel zu sehr auf ihre neue Finanzindustrie, das vermeintliche Geheimnis ihres Erfolgs. Auf jene Zauberbranche, die ihnen das erste Mal in ihrer Geschichte Wohlstand beschert hatte.
Der keltische Tiger liegt nun da wie ein entkräftetes Kätzchen, zerzaust, geschlagen. Die Deutschen sollten es gütig behandeln. Und dann sollte man das Sorgenkind weiter besuchen. „Es gibt dieses Irland“, hatte Heinrich Böll seinem Tagebuch vorangestellt. „Wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.“
Eurokrise
Europa gefangen in seiner Kurzsichtigkeit
„Schuldenkrise spaltet Europa“, titelt Trouw. Die 27 Mitgliedsstaaten haben ihre Mühen, sich auf die Maßnahmen zu einigen, mit denen sie auf mittel- und langfristige Sicht gegen die Schuldenkrise ankämpfen können. Am 6. und 7. Dezember versammelten sich die Wirtschaftsminister in Brüssel, um die Schritte durchzugehen, mithilfe der man eine Ausweitung der Krise auf die iberische Halbinsel verhindern könnte. Den Erklärungen des Blatts zufolge strauchelte man in den Diskussionen vor allem an der ablehnenden Haltung Deutschlands und der Niederlande, mehr Geld für den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (ESM) bereitzustellen. Dazu hatte der Internationale Währungsfond angehalten. Sie lehnten ebenfalls die von Luxemburg und Italien vorgebrachte Idee einer europäischen Schuldenagentur ab, die Anleihen der europäischen Staaten (Eurobonds) ausgäbe.
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