Der Krieg spaltet Europa

Die Libyenkrise bringt die Widersprüche der Europäischen Union ans Licht. Ob bei der Industriepolitik, den internationalen Beziehungen oder beim Thema Immigration, nationale Interessen und fehlende Solidarität stehen auf der Tagesordnung.

Veröffentlicht am 5 April 2011 um 15:05

Drei Fragen, die die französisch-italienischen Beziehungen belasten, können uns Denkanstöße für die Schwierigkeiten der Europäischen Union geben.

Ein Wirtschaftsstreit: Italien bereitet eine Verordnung vor, um zu verhindern, dass französische Wirtschaftsinteressen, auf nebenbei gesagt durchaus normale Weise, die Mehrheit in einem Konzern übernehmen, der den Italienern als Flaggschiff ihrer Lebensmittelindustrie gilt, nämlich den Milchriesen Parmalat.

Ein politischer Streit in der Libyen-Krise: Gemeinsam mit den Briten wollen die Franzosen den Sturz Gaddafis, während Italien, nicht zuletzt wegen der guten Beziehungen Berlusconis zum Diktator, mit allen Mitteln versucht, letzterem einen ausgehandelten und ehrbaren Abgang zu ermöglichen.

Und schließlich der Streit bei der Immigrations-Frage: Italien ist mit der Insel Lampedusa die Eingangspforte jener geworden, die nach Europa gelangen wollen, beispielsweise die Flüchtlinge der tunesischen Revolution. Die Italiener sind verärgert, dass an der italienisch-französischen Grenze den Tunesiern, die ihre Reise auf der Suche nach Arbeit nach Frankreich fortsetzen wollen, die Einreise verweigert wird.

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Wirtschafts-Patriotismus als Bollwerk gegen den freien Markt

Das erstgenannte Problem ist mit dem regulären Funktionieren eines gemeinsamen Markts nicht vereinbar. Die italienische Position ist somit kaum akzeptabel. Zugegeben, es handelt sich hierbei um eine Thematik, auf die sich die Regierungen immer häufiger berufen, nämlich den Wirtschafts-Patriotismus als Bollwerk gegen die Regeln des freien Markts. Bei den Deutschen war dies eine Zeit lang bei Opel der Fall, und auch die Franzosen benutzen gerne dieselbe Argumentation, wie es derzeit Italien gegenüber Frankreich tut. Es sind sterile Streitigkeiten, die häufig auf Kosten des Verbrauchers ausgetragen werden, wenngleich die immer weiter steigende industrielle Konzentration zwangsweise auch soziale Probleme aufwirft. Europa muss hier die Spielregeln, das Geben und Nehmen, bestimmen.

Rom steht Moskau näher als London und Paris

Die zweite Problematik betrifft die Frage europäischen Verteidigung. Die Haltung Roms, die sich hier eher der Position Moskaus als der von London oder Paris annähert, ist kaum akzeptabel. Die persönlichen Beziehungen, welche Berlusconi und Putin mit Gaddafi pflegen, erklären zumindest teilweise die Nachsicht beider Regierungschefs mit dem Oberst. Allerdings lässt die italienische Haltung, mehr noch als die Deutschlands, an das Jahr 2003 denken, dem Jahr als der Irak-Krieg Europa spaltete. Da gab es Rom, London und Madrid an der Seite von George Bush und Berlin, Paris plus Moskau als Achse gegen einen Krieg. Es sei daran erinnert, dass dies alles Spuren hinterlassen hat, die Europa nur schwer auslöschen konnte.

Und heute gibt es ein neues Paradoxon. Vielleicht ist die Schaffung einer Achse Paris-London im Namen der humanitären Intervention, also im Namen unserer Werte, ein Zeichen dafür, dass es möglich sein sollte, gemeinsam mit den Briten zumindest eine embryonale europäische Verteidigungspolitik zu schaffen. Sie wäre umso notwendiger, als dass die amerikanische Führungsrolle nicht mehr dieselbe ist wie früher. Der Unterschied liegt also darin, dass es Europäer gibt, die weiter nach der amerikanischen Führungsrolle verlangen und andere, wie jüngst Frankreich und das Vereinigte Königreich, die meinen, dass der relative Rückgang der amerikanischen Führungsmacht Europa mehr Spielraum für Eigeninitiativen überlasse.

Zwar ist die Haltung Italiens hinsichtlich der europäischen Ziele in der Libyenfrage durchaus kritikwürdig, doch bei der Frage der Immigration, kann man nur schockiert sein darüber, wie wenig Solidarität das Land erfährt. Die Lage auf Lampedusa zeigt einmal mehr die gravierenden Mängel der Union. Jedem ist bewusst, dass eine Kontrolle der Migrationsströme nur mit einer zunehmend kohärenten und koordinierten Haltung möglich sein wird. Und was sehen wir? Ein unerträgliches Spektakel, bei dem die italienische Regierung wartet, bis sich die Lage vor Ort so dermaβen zuspitzt, dass in den Augen der Öffentlichkeit radikalere Maßnahmen gerechtfertigt werden können. Zeitgleich eifern die anderen Regierungschefs Pontius Pilatus nach. Eine inakzeptable Situation.

An diesen Beispielen, bei denen Frankreich und Italien — ausnahmsweise — einmal nicht an einem Strang ziehen, sieht man, dass jeder Tag der vergeht, uns davon überzeugen sollte, dass es sich durchaus lohnt, sich wieder auf den Pfad der europäischen Integration zu begeben. (j-s)

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