Dublin, Januar 2010

Der Morgen nach dem IWF

Nach einer Woche Abwehr bat die irische Regierung in einer demütigen Kehrtwende um ein Rettungspaket von EU und IWF. Welch erniedrigendes Versagen, schreibt der Irish Independent; aber auch eine Chance, Nationalstolz und Selbstvertrauen wiederzuerlangen.

Veröffentlicht am 22 November 2010 um 11:00
Cian Ginty/Flickr  | Dublin, Januar 2010

Heute Morgen können die Menschen in diesem Land zum ersten Mal seit Jahren mit dem Gedanken aus dem Bett steigen, dass zwar noch viele Zweifel und Ängste ihre Schatten werfen, es aber immerhin einen Lichtblick gibt: die Gewissheit, dass – endlich – jemand die Leitung übernommen hat.

Leider ist dieser „jemand“ gleichbedeutend mit den Teams der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, die hier sind, um die Bedingungen einer Rettungsaktion von wirklich niederschmetternden Ausmaßen für Irlands wackelige Banken auszuhandeln.

Banken, die unsere Taschen leerten

Ihre Anwesenheit zeugt vom Versagen bei der Verwaltung unserer eigenen Angelegenheiten und demzufolge in gewisser Weise auch von unser aller Versagen. Vom Versagen der Banken, die leichtsinnig handelten, die Regierung in die Irre führten und unsere Taschen leerten. In erster Linie zeugt sie jedoch vom beschämenden Versagen einer Regierung, die nicht die geringste Form von Führungsverhalten an den Tag legte, bevor sie von außenstehenden Mächten dazu gezwungen wurde.

Schlimmer noch, eine Regierung, die ihre Unzulänglichkeiten bestenfalls nur teilweise eingesteht. Gestern gab Finanzminister Brian Lenihan widerstrebend zu, dass seine Strategie fehlgeschlagen ist. Taoiseach Brian Cowen hat sich offensichtlich noch nicht dazu überwunden, der Realität ins Auge zu sehen.

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Unser Überleben hängt nicht mehr von uns ab

Nun besteht allerdings durchaus die Gefahr, dass die Regierung die Bevölkerung davon zu überzeugen versucht, die insbesondere vom IWF festgelegten Bedingungen stünden frei zur Auswahl und wir seien bei den Verhandlungen gleichberechtigt. Vielleicht gelingt es den Ministern ja, sich selbst – wenn schon niemand anderen – von dieser Absurdität zu überzeugen.

In Wirklichkeit sind wir bankrott und für unser blankes Überleben von anderen abhängig. Der Preis für die Rettung der Banken liegt „in zweistelliger Milliardenhöhe“: nach Angaben des Finanzministers unter 70 Milliarden Euro, Vermutungen zufolge eher 100 Milliarden Euro – in jedem Fall weit mehr als wir zu zahlen in der Lage sind.

Hohe Belohnung für hohen Preis?

Die Minister und insbesondere der Taoiseach sprechen gerne von ihrer Fähigkeit, harte Entscheidungen zu treffen. Doch ihr Handeln in den letzten beiden Jahren war nicht hart genug – und die meisten von ihnen wurden fehlgeleitet. Nun müssen echte, praktische, radikale und erfolgreiche Entscheidungen getroffen werden. Die Banken müssen umstrukturiert, nicht betüddelt werden. Vielleicht sind dazu Fusionen und Verkäufe an ausländische Riesen erforderlich. Es muss endlich Verantwortung übernommen werden.

Doch wir müssen den Preis zahlen – und die Belohnung kann hoch ausfallen. Wenn wir uns durch die fürchterlichen Schwierigkeiten, die vor uns liegen, durcharbeiten, können wir mit der Zeit wieder florieren, unsere wirtschaftliche Souveränität zurückerhalten – und unseren nationalen Stolz und unser Selbstvertrauen wiedererlangen. Wenn wir uns durchgekämpft haben und auf der anderen Seite wieder herausgekommen sind, dann haben wir das alles verdient.

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

STANDPUNKT

Das Ende der Unabhängigkeit

Am Ostermontag des Jahres 1916 verlas der irische Revolutionär Patrick Pearse auf den Stufen des Hauptpostamts in der O’Connell Street in Dublin die Proklamation der irischen Unabhängigkeit. Obwohl der Aufstand scheiterte und seine Anführer hingerichtet wurden, gilt der Text der Proklamation als Meilenstein für das irische Nationalbewusstsein. Der erste Satz lautet: „Irische Männer und Frauen: Im Namen Gottes und der verstorbenen Generationen, von welchen unser Land seine alte Tradition der nationalen Einheit erhält, ruft eben dieses Irland durch uns seine Kinder zur Flagge und tritt für seine Freiheit ein.“

Ein knappes Jahrhundert später sieht das wirtschaftlich gebeutelte Land einer Rettungsaktion durch EU und IWF entgegen, und mit ihr auch dem Verlust seiner nationalen Souveränität. Der Irish Examiner zitiert in seinem Leitartikel vom 19. November eine „Proklamation der Abhängigkeit“, in der die Zeilen aus Pearses Rede der neuen Realität entsprechend abgeändert wurden. „Irische Männer und Frauen: Wie im Namen Gottes ist es so weit gekommen? Und im Namen der verstorbenen Generationen, von welchen unser Land seine alte Tradition der nationalen Einheit erhält, ruft eben dieses Irland durch unsere neuen Herren bei der Europäischen Zentralbank seine Kinder zum Begräbnis seiner finanziellen Staatshoheit.“

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