Nachrichten 9/11, 10 Jahre später

Der Osten steigt auf über Ground Zero

Wir haben die Jahre nach den Angriffen auf Amerika damit verbracht, uns auf die Terrorbedrohung und die Kriege in Afghanistan und den Irak zu konzentrieren. Dabei haben wir den wahren globalen Wandel aus den Augen verloren: Den langsamen und unaufhaltsamen Aufstieg Chinas, schreibt The Guardian

Veröffentlicht am 9 September 2011 um 15:40

Inmitten der Fülle an Verschwörungstheorien über den 11. September ist mir immerhin eine noch nicht zu Gesicht gekommen, nämlich dass Osama bin Laden ein chinesischer Geheimagent gewesen sei. Dennoch, Genossen (wie die Kommunisten zu sagen pflegten) könnte man objektiv argumentieren, dass China am meisten von Amerikas zehn Jahre währender Reaktion auf die islamistischen Dolchstöße mitten in sein Herz profitiert hat.

Anders ausgedrückt: Wenn am 11. September 2031 die Artikel zum Jahrestag geschrieben werden, werden die Kommentatoren dann auf 30 Jahre Krieg gegen den islamistischen Terror zurückblicken, ähnlich wie auf den Kalten Krieg als dem bestimmenden Merkmal der Weltpolitik seit 2001? Das glaube ich nicht. Sie werden diesen Zeitraum eher durch die historische Machtverschiebung von West nach Ost bestimmt sehen, mit einem leistungsstärkeren China und weniger machtvollen USA, einem stärkeren Indien und einer schwächeren Europäischen Union.

Wie der Stanforder Historiker Ian Morris in seinem aufschlussreichen Buch ‚Why the West Rules – for Now’ darstellt, wird diese geopolitische Verlagerung innerhalb des größeren Rahmens einer beispiellosen Geschwindigkeit an technologischem Fortschritt auf der Lichtseite, und einer beispiellosen Reihe an globalen Herausforderungen auf der Schattenseite stattfinden.

Natürlich sind all dies nur historisch beeinflusste Mutmaßungen. Doch wenn sich die Dinge in ähnlicher Weise entwickeln (oder in eine andere Richtung, die nichts mit dem Islam zu tun hat), dann wird die Post-9/11- Dekade der amerikanischen Außenpolitik eher wie ein Umweg als wie die Hauptstraße der geschichtlichen Entwicklung aussehen – allerdings wie ein gewaltiger Umweg mit entsprechenden Auswirkungen.

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Wenn darüber hinaus der arabische Frühling sein reformerisches Versprechen einhält, werden die Terroranschläge auf New York, Madrid und London noch mehr wie Schnee von gestern aussehen: Ein Ende und kein Beginn. Selbst wenn der arabische Frühling in einen islamistischen Winter abkühlt und sich das benachbarte Europa infolgedessen verschiedenen Bedrohungen gegenübergestellt sieht, will dies immer noch nicht heißen, dass der Kampf mit dem intoleranten und gewalttätigen Islamismus das bestimmende Merkmal der nächsten Jahrzehnte sein wird. Gewaltsamer Islamismus wird eine erhebliche Bedrohung bleiben, aber meiner Meinung nach nicht die wesentliche – und vor allem nicht für die USA.

Wir können den Gedanken mit dem Gedankenspiel ‚was wäre, wenn’ weiterspinnen. Soweit die Regierung von George W. Bush im Sommer 2001 eine geopolitische Weltsicht hatte, konzentrierte sie sich auf China als den neuen strategischen Konkurrenten der USA. Was wäre passiert, wenn die Angriffe vom 9. September nicht stattgefunden hätten und die USA sich weiterhin auf den Wettbewerb mit China konzentriert hätten? Was wäre passiert, wenn klar geworden wäre, dass der Sieg des Westens am Ende des Kalten Krieges und die daraus folgende Globalisierung des Kapitalismus im Osten wirtschaftliche Kräfte entfesselt hat, die die größte langfristige Herausforderung für den Westen darstellen werden? Was wäre passiert, wenn Washington den Schluss gezogen hätte, dass dieser Konkurrenzkampf nicht mehr militärische Macht, sondern mehr und klügere Investitionen in Bildung, Innovation, Energie und Umweltschutz und die volle Entfaltung von Amerikas Soft Power erfordert hätte? Was wäre passiert, wenn es anhand der Renaissance Asiens erkannt hätte, dass das Verhältnis von Konsum, Investment und Spareinlagen innerhalb der USA wieder ins Gleichgewicht gebracht werden müsste? Was wäre passiert, wenn sein Staatswesen und seine regierenden Politiker ihm ermöglicht hätten, effektiv diese auf den Tatsachen beruhenden Schlussfolgerungen anzugehen?

Selbst dann würden China und Indien aufstreben. Selbst dann würden sich die Machtverhältnisse von West nach Ost verschieben. Selbst dann würden wir mit Erderwärmung, Wasserknappheit, Epidemien und allen anderen neuen apokalyptischen Reitern fertig werden müssen. Doch wie viel besser würden der Westen und vor allem die USA dastehen?

Aber Schluss jetzt mit dem „was wäre, wenn“. Die Angriffe haben stattgefunden, Amerika hat zwangsläufig darauf reagiert. Eine Regierung, die vorher nach einer allgemeinen Ausrichtung gesucht hatte, legte nun mit voller Kraft los. Zehn Jahre später können wir sagen, dass die Bedrohung durch al-Qaida maßgeblich gemindert wurde. Völlig ausgeschaltet wurde sie nicht, so funktioniert das nicht mit dem Terrorismus, doch sie wurde gemindert. Das ist eine Leistung – doch zu welchem Preis.

Amerika führte zwei große Kriege, einen gezwungenermaßen, in Afghanistan, und einen aus freien Stücken, im Irak. Der Krieg in Afghanistan hätte früher beendet werden können, zu niedrigeren Kosten und mit einem besseren Ergebnis, wäre die Bush-Regierung nicht in den Irak geprescht. Durch Gräuel wie in Abu Ghraib haben die USA ihren eigenen Ruf und auch ihre Soft-Power (ihre Anziehungskraft) geschädigt.

Inzwischen – und teilweise auch infolge all dessen, was in diesem Jahrzehnt passierte – ist das atomar bewaffnete Pakistan eine größere Bedrohung als vor zehn Jahren. In der weiteren muslimischen Welt, auch in muslimischen Gemeinschaften in Europa, herrschen entgegengesetzte Tendenzen. Es gibt Beweise für eine liberalisierende Modernisierung, sowohl mit dem Arabischen Frühling als auch bei Muslimen in Europa, doch es gibt auch, wie in Pakistan und im Jemen, eine weitere islamistische Radikalisierung.

Ein großes Forschungsprojekt der Brown University über die Kosten des Kriegs hält fest, dass in diesen zehn Jahren „über 2,2 Millionen Amerikaner in den Krieg gezogen und über eine Million als Veteranen zurückgekehrt sind“. Das Projekt schätzt die langfristigen wirtschaftlichen Kosten, die bis jetzt infolge der Kriege in Afghanistan, Irak, Pakistan und an anderen Schauplätzen des antiterroristischen Eingreifens angefallen sind, insgesamt auf 3,2 bis 4 Billionen US-Dollar. Wird dies auf ein wahrscheinliches zukünftiges Vorgehen bis 2020 hochgerechnet, könnten die Zahlen auf 4,4 Billionen US$ ansteigen. Die Experten mögen sich über die genauen Beträge streiten, doch es besteht kein Zweifel daran, dass sie enorm sind. Gerundet beläuft sich das Ganze auf etwa ein Viertel der galoppierenden Staatsverschuldung der USA, die selbst auf 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts zusteuert.

Dabei ist dies noch lange keine vollständige Berechnung dessen, was Wirtschaftswissenschaftler die „Opportunitätskosten“ nennen, also den entgangenen Nutzen. Es geht nicht nur darum, was die USA für vier Billionen Dollar in Arbeitskraft, Facharbeiter, Infrastrukturen und Innovationen hätten investieren können – oder auch nur für die Hälfte der Summe, wenn man so großzügig ist und davon ausgeht, dass zwei Billionen Dollar tatsächlich nötig waren, um die terroristische Bedrohung der USA durch das Militär, die Geheimdienste und den Heimatschutz zu reduzieren.

Vor allem sind es die Opportunitätskosten hinsichtlich der Konzentration, der Energie und der Vorstellungskraft des Landes. Will man ein Land verstehen, dann fragt man am besten, wer seine Helden sind. In diesem Jahrzehnt hatten die USA zweierlei Helden. Zum einen den Geschäftsmann und Neuerer: Steve Jobs, Bill Gates. Und zum anderen den Krieger: den Marine, den Navy Seal, den Feuerwehrmann, alle „unsere Männer und Frauen in Uniform“. Auf CNN (nicht Fox News) hörte ich neulich tatsächlich die Moderatorin einer Nachrichtensendung „unsere Krieger“ sagen, als wäre das ein neutraler Ausdruck für einen Nachrichtensprecher.

Und wenn man manche dieser Geschichten über die individuelle Tapferkeit der Amerikaner in Uniform hört, dann sind sie auch wunderbar, begeisternd und demutgebietend. Das muss an diesem Jahrestag deutlich gesagt werden. Doch ich frage mich manchmal selbst, zu welcher Art von Arbeitsplätzen – wenn überhaupt – diese tapferen Männer und Frauen zurückkommen werden. Zu welchen Häusern, welchen Leben, welchen Schulen für ihre Kinder? Meinungsumfragen deuten darauf hin, dass viele Amerikaner sich dieselbe Frage stellen. Ihre Prioritäten liegen jetzt in der Heimat.

Was Präsident Barack Obama diese Woche in seiner Sonderansprache an den amerikanischen Kongress über die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen sagt, wird wichtiger für sie sein als die beredsamsten Worte, die er aufbringen kann, wenn er am Sonntag bei der Gedenkfeier für den 11. September in Washingtons erdbebengeschädigter National Cathedral seine Rede hält. Ehre den Kriegern – doch die Helden, die Amerika jetzt braucht, sind die Helden der Arbeitsplatzbeschaffung.

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