Sculeni (Rumänien), April 2009. Moldawische Studenten skandieren gegen ihren Präsidenten (AFP)

Der Sesam spricht rumänisch

Seit seinem EU-Beitritt ist Rumänien für viele junge Moldawier zum Tor zu Europa geworden. Immer zahlreicher strömen sie für ihr Studium ins Land und zögern auch nicht, ermutigt von Bukarest, einen rumänischen Pass zu beantragen. Moldawien beschuldigt seinen Nachbarn hegemonialer Hintergedanken. Währenddessen bildet sich in Chisinau eine pro-europäische Regierungskoalition.

Veröffentlicht am 10 August 2009 um 14:32
Sculeni (Rumänien), April 2009. Moldawische Studenten skandieren gegen ihren Präsidenten (AFP)

Von seinem kleinen Zimmer auf dem Campus der Universität von Bukarest sieht Andrei Babcinetchi auf einen betonierten Sportplatz und auf Wohnsilos aus kommunistischen Zeiten. Das ist zwar noch nicht das Westeuropa, von dem der moldawische Student träumt, aber dennoch ein erster Schritt dahin: für vieler seiner moldawischen Landsleute ist ein Rumänienaufenthalt die erste Durchgangsstation in Richtung Immigration in den Westen. "Ich bin an der Wirtschaftsfakultät immatrikuliert", erklärt der Student. "In zwei Jahren hab ich meinen Magister und werde danach im Westen weiterstudieren. Wäre ich in Moldawien geblieben, hätte ich keine Chance. Rumänien ist in der EU und das Diplom aus Bukarest wird in allen Mitgliedsstaaten anerkannt. Wir wollen uns nicht vom Rest der Welt isolieren. Wir gehören in die EU."

Wie Andrei Babcinetchi studieren zigtausende junge Moldawier, vom Wunsch nach Europa erfüllt, in Rumänien. Sie beantragen einen rumänischen Pass, der für sie die Eintrittskarte in den Schengen-Raum der EU darstellt.

Moldawien ist ein ehemaliges rumänisches Staatsgebiet, das von der UdSSR nach dem zweiten Weltkrieg annektiert wurde. Zwei Drittel der 4 Millionen Moldawier sprechen Rumänisch, ein Drittel Russisch. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion errang das Land seine Unabhängigkeit, doch nachdem 2001 die kommunistische Partei wieder an die Macht kam, verarmte es immer mehr. Der EU-Beitritt Rumäniens 2007, machte das Land für die rumänischsprachigen jungen Moldawier äußerst attraktiv. "Moldawien ist noch nicht für einen EU-Beitritt gerüstet", meint der Soziologe Dan Dungaciu, "also versuchen die jungen Leute, sich individuell in Europa zu integrieren. Der Schlüssel dazu ist die rumänische Staatsbürgerschaft."

Am 14. April setzte sich der rumänische Präsident Traian Basescu für die Moldawier ein. "Wir können es nicht zulassen, dass die jungen Moldawier nicht in Rumänien oder in den anderen europäischen Ländern studieren dürfen", erklärte er vor dem Parlament. Das Staatsoberhaupt verlangte von der Regierung in Bukarest ein vereinfachtes Verfahren bei der Bearbeitung der Passanträge von rumänischsprachigen Moldawier. Seither wurden im rumänischen Konsulat der moldawischen Hauptstadt Chisinau über 800.000 Passanträge gestellt.

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Die neue Politik Bukarests belastet die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Die Spannungen zwischen Moldawien und Rumänien erreichten nach den Parlamentswahlen vom 5. April einen kritischen Punkt. In Chisinau kam es zu Krawallen, bei denen Jugendliche das Parlament stürmten und einen Brand legten. Die demokratische, pro-europäische Opposition focht den Wahlsieg der Kommunisten des russlandnahen Präsidenten Vladimir Voronin an.

Der moldawische Staatschef beschuldigte Rumänien, die Unruhen angestiftet zu haben, um Moldawien zu annektieren. Er führte kurzerhand ein Visa-Regime für rumänische Staatsbürger ein.

Die mit Gewalt niedergeschlagenen antikommunistischen Proteste verschärften aber nur den Zorn Basescus, der vor dem Parlament erklärte: "Wir sind im 21. Jahrhundert und werden mit einem mangelnden Rechtsstaat, mit ethnischer Diskriminierung, mit Unterdrückung von Opposition und Zensur konfrontiert. All diese Elemente schaffen eine Atmosphäre des Terrors."

Der Sieg der antikommunistischen Opposition bei den vorgezogenen Neuwahlen vom 29. Juli müsste die Beziehungen der beiden Länder entspannen. Die moldawischen Studenten Rumäniens, regelrechter Stoßtrupp für den Wandel in Moldawien, feiern heute ihren Sieg: "Endlich können wir ernsthaft einen EU-Beitritt in Betracht ziehen", sagt Andrei Babtcinetchi. "Wir haben sehr schnell an der Freiheit Gefallen gefunden."

Die Kommunistische Partei bleibt aber mit 48 Sitzen gegenüber den 53 Sitzen des antikommunistischen Blocks erste Kraft im Lande. Sie wird daher sicherlich auch bei den kommenden Diskussionen ein Wörtchen mitreden, allein schon deshalb, weil für die Wahl des Präsidenten 61 Stimmen benötigt werden. Abgesehen von der Wahlarithmetik, hat das Wahlergebnis die Moldawier noch weiter motiviert, einen rumänischen Pass zu beantragen. "Unseren Prognosen zufolge werden ungefähr 2 Millionen Moldawier die rumänische Staatsbürgerschaft annehmen", meint Rumäniens Präsident Basescu. Anders gesagt, die Hälfte der moldawischen Bevölkerung.

POLITIK

Koalition für Europa

Vier Parteien der prowestlichen Opposition Moldawiens haben am Samstag, dem 8. August, einen Koalitionsvertrag unterzeichnet. Sie verfügen somit über ausreichend Sitze, um die Regierung zu stellen (53 bei 48 für die Kommunisten). "Wir sind uns unserer kommenden Verantwortung bewusst", erklären die vier Parteichefs auf der Titelseite der Wochenzeitung Timpul. Mit ihrer Unterschrift gründeten die Bündnispartner die Allianz für eine europäische Integration. "Ein bedeutender, nicht rückgängig zu machender Schritt" schreibt Arcadie Gherasim in seinem Leitartikel. "Die Allianz muss als erstes mit Brüssel das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen (...) Somit wäre der — unumkehrbare — Niedergang des letzten kommunistischen Regimes besiegelt" [nach den umstrittenen Wahlen vom 5. April, ließ die EU verlauten, dass ein Abkommen in Betracht gezogen werden könne, sollte sich das Land "auf einen demokratischen Weg" einschlagen.] Ist dieses Dokument erst einmal unterzeichnet, "kann kein Voronin-Unfall" mehr [Anspielung auf den kommunistischen Präsidenten Vladimir Voronin] Hunderttausenden von jungen Leuten das freie Überqueren des Grenzflusses Pruth verbieten... Richtung Europa!", schreibt Timpul.

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