Die Bürger im Mittelpunkt der Union

Die repräsentative Demokratie und das Konzept von bürgerlichem Engagement und Solidarität der Europäer werden immer schwächer, was die Krisenbewältigung erschwert. Wenn sich die Bürger nicht stärker beteiligen, dann wird die Union in ihrer jetzigen Form nicht überleben, warnt ein polnischer Journalist.

Veröffentlicht am 14 September 2012 um 14:39

Um auf Fragen wie „Welches Europa brauchen wir?“ und „Welches Europa können wir uns leisten?“ antworten zu können, müssen wir uns die Europäer von heute und von morgen ansehen. Schließlich sprechen wir hier von einer echten Konstruktion, von einem bereits existierenden Wesen, das aus Menschen besteht, die es zu dem machen, was es ist. Nicht nur Intellektuelle, Politiker und hohe Beamte, sondern auch ganz normale Leute. Die wählen oder sich enthalten, die an öffentlichen Angelegenheiten Interesse haben oder nicht, die für scharf- oder stumpfsinnige Präsidenten und Abgeordnete stimmen, die ihre politischen, wirtschaftlichen und bürgerlichen Rechte voll oder gar nicht ausüben.

Für mein Gefühl wird das Problem, das die eigenen Bürger, also die Europäer, für Europa darstellen, zu sehr vernachlässigt. Die Bürger haben sich nämlich verändert und sind nicht mehr dieselben wie diejenigen, mit denen große europäische Führungsfiguren wie De Gasperi, Schuman, Adenauer oder De Gaulle vor einem halben Jahrhundert zu tun hatten. Dieser Wandel beeinflusst nicht nur die heutige und die zukünftige Demokratie in den Nationalstaaten, sondern auch die aktuelle Form und die Zukunft der Europäischen Union.

Der Bürger wurde vom Verbraucher verdrängt

Man kann die Union nicht nachvollziehen, ohne ein paar Allgemeinheiten in Erinnerung zu rufen. Die Union entstand aus den Traumata des Zweiten Weltkriegs und wurde von Gesellschaften aufgebaut, die ihn überlebt hatten. Somit waren sich die Bürger der Risiken einer schlechten Politik zu sehr bewusst, um sich nicht für öffentliche Angelegenheiten zu interessieren. Sie lasen Zeitung, gingen zur Wahl und setzten sich in Parteien und Gewerkschaften ein. Im Westen waren die ersten 30 Jahre der Nachkriegszeit ein regelrechtes goldenes Zeitalter für das bürgerschaftliche Engagement.

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Im Laufe der folgenden Jahrzehnte unterliefen Soziologie und Demokratiemethoden starke Veränderungen. Der Bürger wurde nach und nach vom Verbraucher verdrängt. Im öffentlichen Leben wurden Debatten und Nachrichten durch Unterhaltung ersetzt. Traditionelle politische Parteien, die nach strikten ideologischen und klassenspezifischen Kriterien links oder rechts angesiedelt waren, kapitulierten vor einer namenlosen Ideologie, laut welcher alle Lebenssphären der Wirtschaft untergeordnet wurden. Dann schlugen sie Hand in Hand denselben Weg ein und unterwarfen ihre Ideen der Wirtschaft.

Ein Wandel in der sozialen Struktur, im Wissensstand, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Wertesystem

Die Zukunft wird uns sagen, ob das nun gut oder schlecht ist. Doch es ist in der Kultur der westlichen Gesellschaften bereits ein tiefer Wandel zu erkennen: in der sozialen Struktur, im Wissensstand, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, im Wertesystem. Diesen Wandel bezeichnen Politologen und Soziologen seit mehreren Jahrzehnten als Ursache für die Krise der Demokratie in ihren traditionellen Repräsentationsformen.

Ist die repräsentative Demokratie, die in den Nationalstaaten zu Schaden kommt (einem Schaden, den Jürgen Habermas mit seinem Konzept der deliberativen Demokratie bekämpfte), in der Lage, der Krise der Europäischen Union abzuhelfen? Das glaube ich nicht. Ich verstehe nicht, wie das repräsentative Modell, das auf der Idee eines kollektiven Verantwortungssinns beruht, die Union retten könnte, wenn es doch in seiner eigenen Existenz bedroht ist. Wie könnte sich dieses Modell, das auf nationaler Ebene im Rückgang begriffen ist, als Retter der supranationalen Institutionen erweisen? Da ich nicht nur mit den Theorien von Habermas, sondern auch mit denen von John Keane vertraut bin, suchte ich also eher nach innovativeren und besser zu unserer Zeit passenden Lösungen, wie etwa eine paneuropäische Institutionalisierung der deliberativen (der argumentativen Abwägung - AdR), partizipatorischen Form für alle, die es wünschen.

Die Entscheidungsunfähigkeit der EU führt uns geradewegs in die Katastrophe

Abgesehen davon müsste man wissen, ob diese Innovationen, die sich auf nationaler oder lokaler Ebene mühsam ihren Weg bahnen, auch nur die geringste Chance auf einen Durchbruch haben und auf EU-Ebene funktionieren können. Ich bin da auch nicht sicher. Das bedeutet, dass wir uns zwischen einer ganz sicher ineffizienten und einer wahrscheinlich unmöglichen anderen Lösung entscheiden müssen.

Der Wandel ist dringend erforderlich. Die Entscheidungsunfähigkeit der EU führt uns geradewegs in die Katastrophe. Eine Verstärkung der traditionellen Mechanismen der Demokratie innerhalb der Union könnte die Entscheidungsprozesse vielleicht kurzfristig freischalten, erscheint jedoch auf lange Sicht kontraproduktiv. Es ist zum Beispiel offensichtlich, dass direkte Präsidentschaftswahlen eine stärkere Persönlichkeit als Herman van Rompuy an die Macht bringen würden. Doch wäre uns etwa geholfen, wenn diese andere Person, mit der Unterstützung von Mediset und News Corporation, Silvio Berlusconi wäre?

Die Erosion der sozialen Solidarität

Die Erosion der sozialen Solidarität ist ein anderer prägnanter Fakt in unserem heutigen Kontext. In den meisten Ländern ist zunehmender Widerstand gegenüber Umverteilung zu beobachten. Die Reichen sind heute weniger dazu geneigt, ihren Wohlstand mit den weniger Betuchten zu teilen, und stützen sich auf eine starke Ideologie, um diese Ablehnung zu rechtfertigen. Dies betrifft sowohl klassen- als auch generations- oder sogar regionsübergreifende Übertragungen.

Doch ohne verstärkte Solidarität kann weder die Krise effizient bewältigt noch die Europäische Union in ihrer aktuellen Form aufrechterhalten werden. Nicht nur vertieft sich die Kluft zwischen manchen, heute relativ problembelasteten Ländern und anderen, denen es relativ gut geht. Auch ist ganz Europa von einem gemeinsamen Problem betroffen: Die Globalisierung und verschiedene Abläufe des gesellschaftlichen Wandels werden in naher Zukunft zu einem beträchtlichen Rückgang unser aller Lebensstandard führen (manche sprechen von einem Rückgang um 20 Prozent). In einer derartigen Situation wird es noch schwieriger sein, auf einen Anflug von Solidarität zu hoffen.

Bei einem Zusammenbruch des Euro würde es nur Verlierer geben

Diese beiden Faktoren – die Erosion des bürgerlichen Engagements und der Solidarität – führen mich zu der Annahme, dass weder die Krise, in der sich die Union befindet, noch die Lösungsansätze, die zu ihrer Bewältigung vorgeschlagen werden, einen institutionellen Charakter haben. Die Form der europäischen Institutionen sowie ihre Machtlosigkeit spiegeln die aktuelle soziokulturelle Situation wider. Die Vertiefung der Krise wiederum ist der Ausdruck der Erosion der sozialen und kulturellen Fundamente der Union.

Das ist kein Todesurteil. Ich glaube nicht an den Tod der Union, den ich sehe außer ihr kein anderes annehmbares Leben für die gegenwärtigen Generationen. Bei einem Zusammenbruch des Euro würde es nur Verlierer geben (und davon wohl die meisten in Deutschland) und der Zusammenbruch der Europäischen Union wäre eine Katastrophe, die man mit einem großen Krieg vergleichen könnte. Glücklicherweise teilen viele in Europa dieses Bewusstsein, zumindest in den politischen Eliten.

Doch die kleinen technischen, institutionellen, juristischen und konstitutionellen Tricks werden langfristig zu gar nichts führen, wenn es uns nicht gelingt, die Kultur und die Institutionen zu berühren. Die Wirtschaftskrise (also die Finanz- und Schuldenkrise) hat politische Grundlagen, sie ist eine Auswirkung der Krise der repräsentativen Demokratie.

Die Krise der repräsentativen Demokratie ist kulturellen Ursprungs und resultiert aus der Erosion des bürgerlichen Engagements und der Solidarität. Effiziente Gegenmittel müssen, so schwer das intellektuell und politisch auch sein mag, die soziokulturelle Beschaffenheit der aktuellen Spannungen berücksichtigen und nicht nur das Alltagsmanagement der unidentifizierten Kreatur anvisieren, die die Europäische Union heute ist.

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