Beisetzung Antoine Sollacaros in Propriano am 19. Oktober 2012

Die tödliche Stille Korsikas

Vergessen Sie Sizilien, Neapel oder Kalabrien! Korsika – die „Insel der Schönheit“ – ist Europas Region mit der höchsten Mordrate. Mit beunruhigender Regelmäßigkeit sterben dort Nationalisten oder Geschäftemacher im Kugelhagel. Protokoll der Verbrechen, über die alle Bescheid wissen, aber niemand spricht.

Veröffentlicht am 1 November 2012 um 13:38
Beisetzung Antoine Sollacaros in Propriano am 19. Oktober 2012

Weder Kerzen noch Blumen wachen über die Orte, an denen sie gefallen sind. Auch die improvisierten Altare, jene Plastikfiguren, die an die Verkehrstoten erinnern und die auf Korsika sonst an jeder Straßenecke zu finden sind, sucht man vergeblich. Keine oder kaum Gedenktafeln wie etwa für die Opfer des korsischen Widerstands auf dem Cour Napoléon in Ajaccio. Kein „ad memoriam“ in Marmor wie für Aktivisten des FLNC [zu deutsch: Front für die nationale Befreiung Korsikas], die allerorts betonen, dass sie „per a nazione“ [für das Vaterland] gefallen seien — auch wenn sie sich gegenseitig umgebracht haben. Seit sechs Jahren, seit dem Mord eines Abgeordneten des korsischen Parlaments, Robert Feliciaggi, spukt es auf Korsika mehr und mehr. Und Korsikas Hauptstadt Ajaccio ähnelt zunehmend einem Leichenfeld.

Erst vor kurzem durchzog eine neue Todesserie die Straßen der Kaiserstadt. Ihre Opfer: Mitglieder einer Handvoll von Banden, die über die Stadt herrschen wollen und die sich von der Vormundschaft der mafiösen Strukturen der Alten gelöst haben. Eine Kartographie des Todes, die sich an zwei frühere Mordserien anschließt. Jener von 1995, während des „Bürgerkriegs“ zwischen den Nationalisten, als jeder Mord binnen vierundzwanzig Stunden vom Gegner mit einem weiteren Mord vergolten wurde. Und jene noch blutigere, von der die Stadt vor 40 Jahren erschüttert wurde: der Streit um die „Combinatie“, ein Frachter mit einer Ladung Zigaretten, der im Golf von Ajaccio aufgelaufen war. Der Kampf um den Gewinn aus der Ladung stand jahrelang im Zentrum des Interesses der Unterwelt von Marseille und Korsika.

„Abgeknallt wie einen Hund"

Die aktuelle Todesspirale, die nichts mit Zufällen oder Idealen zu tun hat, begann bereits 2006 auf dem Parkplatz des Flughafen von Ajaccio. Dort wurde Robert Feliciaggi mit zwei Nackenschüssen niedergestreckt, als er sein Gepäck im Kofferraum seines BMW verstauen wollte. Feliciaggi war ein lebensfroher, rundlicher Geschäftsmann mit Sakko und Zigarre, weder ein Ganove noch ein Nationalist — und noch weniger ein Mafioso, wie einige seiner Freunde. Dort vor der Autovermietung Avis, wo die Touristen täglich Schlange stehen, könnte die Spurensuche dieses mörderischen Brettspiels also beginnen, dessen letztes Feld bis dato eine Tankstelle auf der Route des Sanguinaires ist, wo am 16. Oktober dieses Jahres der Anwalt Antoine Sollacaro ermordet wurde.

Vom Parkplatz des Flughafens, auf dem „Robert“ (wie ihn ganz Ajaccio nennt) getötet wurde, führt eine vierspurige Straße in das Industriegebiet Mezzavia. Auf weniger als hundert Metern starben hier vier Menschen: Vor einer Schule Jules Massa, der ehemalige Leibwächter des ermordeten Nationalistenführers François Santoni. Gegenüber — zwischen einem Pizzawagen, dessen Besitzer hinter der Theke erschossen wurde, und der Landwirtschaftsinnung, dessen Präsident am Tag der Weihnachtsfeier 1990 mit fünfundzwanzig 9mm-Kugeln übersät wird — eine Gedenktafel an „Doktor Lafay“. Der Tierarzt hatte eine Hilfsorganisation für Terrorismusopfer gegründet. 1982 wurde er von FLNC-Schützen mit drei Schüssen verletzt. Fünf Jahre später war er Gast in einer Talkshow des lokalen Senders France 3 Corse über das Thema „Gewalt“. Als er das Gebäude verließ, wurde er auf offener Straße wie ein Hund abgeknallt. Auf Archivbildern sieht man „Doktor Simeoni“, ein Idol der Separatisten von Aleria und bei besagter Debatte Lafays Widersacher, wie er sich vergeblich darum bemüht, diesen per Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben.

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„Die Gewalt wuchert über Berg und Tal, sie prägt die Mentalitäten, organisiert die Gesellschaft, nährt die Gespräche, schwärzt die Zeitungsspalten, breitet sich im Umfeld der Ruinen aus, verpestet die Straßen“, schrieb der kritische korsische Schriftsteller Nicolas Guidici, bevor er selbst 2001 ermordet wurde. Am unteren Ende des Platzes Cour Napoléon findet man die berühmte Straße Rue du Général Fiorella. Dort, gleich neben der Bäckerei Kalisté-Bouffe, in der sich die Gendarmen der benachbarten Kaserne ihre Sandwiches kaufen, gibt es eine der wenigen Gedenktafeln der Stadt. An dieser Stelle wurde am 6. Februar 1998 auf dem Weg ins Theater Kallisté der Präfekt Claude Érignac „feige ermordet“. Das Programm des mittlerweile geschlossenen Theaters hat sich bis heute nicht verändert. Seit vierzehn Jahren liest man auf ein und demselben Plakat: „Die korsischen Brüder“, nach dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas. Ort der Handlung, das korsische Dorf Sollacara. Und das Orchester von Avignon spielt noch immer Schuberts „Unvollendete“.

Über Morde spricht man nicht

In Ajaccio verbreitet sich die Neuigkeit eines „Malamorte“ — eines gewaltsamen Todes — immer zuerst in den Kneipen der Stadt, begleitet von einer Reihe Aphorismen. „Lieber er als ich“, „Lieber der Schlachter sein, als das Kalb“, „Man gehe besser zur Polizei als zum Priester“. Und das oft mit einer Geste der Machtlosigkeit: „Wenn du auch nicht weißt, warum er getötet wurde, er selbst wird es schon wissen.“ Ein Mord bleibt tagelang das Gesprächsthema Nummer eins. Doch sobald jemand vom Nebentisch kommt, senkt man die Stimme. Ein Herr aus Ajaccio erzählt mir — nach fünfundfünfzig Jahren, die seitdem vergangen sind, und nur unter der Bedingung, anonym zu bleiben — wie er als Kind im Café Sporting eine Limonade trank, als er Schüsse hörte. Er habe aufgeschrien: „Sie haben François umgebracht!“ „Ich erinnere mich heute noch genau daran, wie mir mein Vater eine gescheuert hat.“ Man redet nicht über Morde, „vor allem im Sommer, wenn alle Fenster offen sind.“

Im besten Fall wird im Gerichtsgebäude ein Saal nach einem Opfer benannt, wie es sicherlich für den ehemaligen Staranwalt Antoine Sollacaro der Fall sein wird. Oder ein Boulevard, wie im Fall von Marie-Jeanne Bozzi, der ehemaligen Bürgermeisterin von Porticcio, die am 21. April 2011 auf einem Parkplatz ihrer Stadt getötet wurde. Wer erinnert sich noch daran, dass am unteren Ende des Cour Napoléon, auf der Meeresseite, 1996 der Nationalist Yves Manunta beinahe einem Attentat zum Opfer gefallen wäre? Nur hundert Meter vom Platz entfernt sausten ihm mehr als fünfzig Kugeln um die Ohren. Seine Frau und seine 10-jährige Tochter wurden damals verletzt — sie stehen heute noch unter Polizeischutz. Später wurde Yves Manunta zum Mitbegründer des Sicherheitsunternehmens Société Méditerranéenne de Sécurité (SMS), bis er sich mit seinem Geschäftspartner Antoine Nivaggioni verkrachte. Die Firma kümmert sich um die Sicherheit der Häfen und Flughäfen Korsikas und der Côte d’Azur und ist der drittgrößte Arbeitgeber der Insel. Noch Anfang des Sommers scherzte er, eine kugelsichere Weste tragend, vor einer Kneipe, zu der er manchmal auf seiner Vespa fuhr: „Man nennt mich den Überlebenskünstler“. Doch am 9. Juli wurde er, der sich nicht wie eine Ratte verstecken wollte, von Auftragsmördern auf offener Straße erschossen. „Wenn ich da vorbeigehe, muss ich schon immer an ihn denken“, sagt ein Beamter des korsischen Parlaments, das nur etwa hundert Meter entfernt ist.

Etwas weiter unten, fast am Meer, wurde der andere Chef von SMS, Antoine Nivaggioni, bereits am 18. Oktober 2010 erschossen. Jeder in Ajaccio kannte Antoine. Er war der Sohn der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts „La Parisienne“, das auch spät abends noch geöffnet ist. Zwei Männer sprangen damals aus dem großen Dachgepäckkoffer eines Wagens, der vor seinem Haus parkte. Schwer bewaffnet mit Luftgewehren und Pistolen ließen ihm die Schützen keine Chance. „Zumindest wurden die Löcher wieder verputzt“, seufzt einer der Hausbewohner mit Blick auf die Einschusslöcher, von denen die Hauswand übersät ist – Mörtel über die Wundmale eines Mordes, den die Stadt gerne vergessen würde.

„Die Toten? Wir denken ein paar Tage an sie, ein paar Wochen, dann ist es aber auch schon wieder vorbei. Wie mit allem“, seufzt ein Frisör in der Rue de la Fesch, der Einkaufsstraße der Stadt, wo am 29. Januar 2009 das Mitglied einer Bande von Männern einer rivalisierenden Bande umgebracht wurde. „Was soll ich sagen? Das gehört einfach zu unserem Kulturgut“, sagt er vorsichtig. „Wenn wir überall Gedenktafeln aufstellen würden, dann wäre die ganze Stadt ein einziger Leidensweg“, meint ein anderer. Fast Wort für Wort der Satz des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée, als er über den Place Porta von Sartène sagte, dass er zum „Friedhof“ würde, stellte man überall dort ein Kreuz auf, wo jemand umgebracht wurde.

Kein Tag ohne Kondolenzschreiben

Als im vergangenen April vor der Polizeiwache der Besitzer einer Dönerbude, Jean-Pierre Rossi, um Mitternacht beim Leeren seiner Mülltonne erschossen wurde, wusste jeder, dass er Opfer einer Verwechslung geworden war. Die ganze Stadt flüsterte den Namen des „glücklichen“ Nachbarn. Der Besitzer eines benachbarten Sushi-Restaurants wollte ihm eine Gedenktafel stiften. Die Anrainer lehnten das allerdings mit großer Mehrheit ab. Das einzige Schild, das heute an Jean-Pierre Rossi erinnert, steht an seinem Laden: „Zu verkaufen“.

Die Geister der Toten sollen nicht an jeder Straßenecke herumschleichen. „Es ist keine Frage der Feigheit, sondern des Schutzes, des Lebens und Überlebens. Wie soll man sich denn sonst verhalten, wenn man in einer Bar einen Typen begrüßt, der achtzehn Jahre lang im Knast war“, fragt ein Lokaljournalist. Die korsische Gesellschaft, sagt er, belüge sich selbst. „Die Insel ist nur Dekor, wie in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Wir sind die letzten, die denken, dass Korsika ein unberührter Ort sei. Wir leben in einer Art Filmstadt ohne menschliche Figuren.“

In der Literatur ist von der korsischen „Murder Tour“ keine Spur, nicht einmal auf verschlüsselte Art in lokalen Krimis. Noch weniger in Touristenführern. „Ich hatte einmal daran gedacht, ein Buch über die Kreuze an den Straßenrändern der Insel zu machen. Aber ich habe diesen Plan aufgegeben“, erzählt der Verleger Jean-Jacques Colonna-d’Istria. „Ich merkte gleich, dass das für Missfallen sorgen würde. Also, die Morde und so ...“

Morgens sitzen die Alten von Ajaccio auf der Terasse der Cafés „Le Golfe“ oder „Le Napoléon“ und durchforsten die Todesanzeigen in Corse Matin, bevor sie am Nachmittag ihre Kondolenzschreiben verschicken. „Natürlich kennt jeder jeden.“ Doch will man einmal über einen mehr wissen, oder jemanden über die Geographie und Geheimnisse dieser Rundfahrt des Todes befragen, dann kommt die verschmitzte Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin ja so vergesslich. Manchmal begegne ich Leuten auf der Straße, von denen ich dachte, sie seien tot. Wissen Sie, das geht so schnell hier...“

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