Die verlorene Generation will weg

Wie viele Bürger werden das Land verlassen? Deutschland und Österreich öffnen

Arbeitern aus verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas ihre Grenzen, und die

polnische Regierung fürchtet eine neue Abwanderung von Arbeitskräften.

Veröffentlicht am 29 April 2011 um 16:51

Bereits heute arbeiten ca. 400.000 Polen in Deutschland, einige legal, andere als Schwarzarbeiter. Auch in Österreich haben zehntausende polnische Staatsbürger Arbeit gefunden. Das polnische Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik veröffentlicht höchst offizielle Prognosen: mit der vollständigen Öffnung des Arbeitsmarktes in den beiden Ländern dürften weitere 400.000 Polen zum Arbeiten ins Ausland ziehen [die besagte Öffnung betrifft Arbeiter aus Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen und Slowenien]. Die Auswanderung wird voraussichtlich nicht sofort in einer einzigen Welle erfolgen, sondern sich über die nächsten vier Jahre erstrecken.

Auch die Informationen des polnischen Bundes der privaten Arbeitgeber Lewiatan zeigen die starke Nachfrage nach polnischen Arbeitern in diesen Ländern. In Deutschland werden 30.000 Informatiker, ebenso viele Ingenieure und ca. 50.000 Pflegekräfte für Senioren benötigt, so Monika Zakrzewska, Expertin bei Lewiatan. Ärzte, Bauarbeiter, Elektriker, Schlosser, Mechaniker, Konditoren, Optiker, Friseure … alle dürften problemlos Arbeit finden.

Die Mutigsten sind bereits ausgewandert

Seit zwei Monaten organisieren deutsche Arbeitgeber bereits Recruiting-Messen in den Woiwodschaften [Verwaltungsbezirken] im westlichen Polen und geben Anzeigen im Internet auf. Arbeitsministerium und Experten von Lewiatan geben sich jedoch zuversichtlich und sind davon überzeugt, dass die Auswanderungswelle nicht mit derjenigen nach dem EU-Beitritt Polens 2004 zu vergleichen sein wird. Die Arbeitslosigkeit ist geringer, die Mutigsten und Dynamischsten sind bereits ausgewandert, und im Allgemeinen sprechen die Polen nicht gut Deutsch. Die in Deutschland so gesuchten Fachkräfte finden darüber hinaus auch in Polen Arbeit und brauchen nicht auszuwandern, versichert Monika Zakrzewska.

Aber auch Experten können sich schwer täuschen. Vor dem Beitritt Polens hatten sie die zu erwartende Abwanderung von Arbeitern nach Großbritannien auf maximal 40.000 Polen geschätzt. In Wirklichkeit war die Zahl der Migranten in dieses Land jedoch zehnmal höher.

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Professorin Krystyna Iglicka, Ökonomin und Demographin beim Zentrum für internationale Beziehungen in Warschau, geht davon aus, dass die Zahl der Personen, die Polen verlassen möchten, auch dieses Mal die offiziellen Schätzungen übertreffen könnte. Hierfür gibt es ihr zufolge deutliche Zeichen: in Deutschland macht man polnischen Arbeitskräften sehr verlockende Angebote, und die Einwohner der ärmsten Regionen Polens suchen Arbeit.

Polen kann es sich nicht mehr erlauben, die kontinuierliche Auswanderung seiner Bürger zu akzeptieren. In den letzten sieben Jahren erlebte das Land die größte Emigrationswelle seiner Geschichte. Im 19. Jh. verließen 800.000 Polen das Land, in den 80er Jahren waren es 1 Million und nach dem EU-Beitritt zogen fast 2 Millionen Polen aus dem Land. Viele wanderten nach England aus, wo nach dem Amt für Statistik derzeit 550.000 Polen arbeiten. 140.000 Polen haben in Irland Arbeit gefunden, 90.000 in Italien, 80.000 in Spanien, 50.000 in Frankreich und 70.000 außerhalb der Europäischen Union.

Die Emigranten von früher verfügten über eine Grundausbildung; bei den Auswanderern von 2004 handelt es sich überwiegend um junge Leute mit Hochschulabschluss. Sie beginnen als Tellerwäscher im Restaurant und arbeiten als Reinigungspersonal, um Geld zu verdienen, mit der Absicht, schnell wieder nach Hause zurückzukehren. Oft verlängert sich ihr Aufenthalt um ein Jahr, eventuell auch um mehrere. Häufig wird der Aufenthalt mit wirtschaftlichem Ziel dann zum ständigen Exil.

Eine verlorene Generation für Polen

„Für uns handelt es sich um eine verlorene Generation, und zwar nicht, weil sie sich nicht engagiert oder nicht genug Talent hat, sondern weil sie für Polen endgültig verloren ist“, fügt Professorin Iglicka beunruhigt hinzu. In ihrem letzten Bericht über die Auswanderung seit 2004 stellt sie Folgendes fest: Polinnen, die nach Großbritannien auswanderten und in ihrem eigenen Land keinen Nachwuchs planten, können in ihrem Gastland doppelt so hohe Geburtenraten vorweisen, wie die Immigrantinnen aus Indien und Bangladesch. Ihre Geburtenrate pro Frau beträgt 2,48, bei den Britinnen liegt sie dagegen nur bei 1,84. Der Grund ist, dass es in Großbritannien wesentlich einfacher ist, Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen als in Polen, da die Qualität des Sozialversicherungs- und Gesundheitssystems wesentlich besser ist.

Noch schlimmer ist, dass diejenigen, die beschließen nach Polen zurückzukehren, ihre Entscheidung schnell bereuen. In ihrem eigenen Land werden sie von niemandem mit offenen Armen erwartet – bei ihrer Auswanderung gab es keine Arbeit, und das hat sich bei ihrer Rückkehr nicht geändert. Ihre Auslandserfahrung ist darüber hinaus für die polnischen Arbeitgeber nicht von besonderem Wert, was leicht zu verstehen ist, denn ihr Lebenslauf hat sich nicht bereichert - schließlich ist ein Tellerwäscher- oder Babysitterjob in dieser Hinsicht nicht besonders interessant.

Auch die guten Englischkenntnisse sind ein Mythos, denn oft bleiben die Polen im Ausland unter sich und haben keine Zeit für Sprachkurse.

Darüber hinaus machen sie sich keine Illusionen, denn im Ausland verdienten sie den Gegenwert von 9.000 Zloty [2.294 Euro], während man ihnen in Polen 1.500 [380,65 Euro] anbietet, so Professorin Krystyna Iglicka.

Schwer enttäuscht ziehen sie erneut ins Ausland. Vor allem, so die Soziologen, hat die Auswanderung sie verändert. Wer sich an das Leben in einer anderen Kultur, an andere Farben, den Lärm anderer Straßen, an ein vielsprachiges und multikulturelles Umfeld gewöhnt hat, fühlt sich in Polen verloren, eingeengt und vom Ersticken bedroht.

Professorin Iglicka warnt: „Wir schaffen für die Jugend keine guten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Im Gegenteil, wir vertreiben sie. Die Regierung hat sich daran gewöhnt, durch Auswanderung geschickt das Arbeitslosenproblem zu lösen. Es gibt keine Arbeit für junge Leute? Lassen wir sie gehen! Selbst wenn sie zurückkommen, wird das das Problem der nächsten Regierung sein. Lassen wir sie die Emigration und die demographischen Probleme, die sie nach sich zieht, lösen; so können wir in Ruhe regieren.“

Dem Kabinett Deloitte zufolge sind 60 % der polnischen Studenten bereit, Polen zu verlassen. Sie sind davon überzeugt, in ihrem Heimatland nicht die geringste Zukunftsperspektive zu haben. Die Arbeitslosigkeit unter den Hochschulabgängern liegt bei 24 %.

Aus Prager Sicht

Auch die Tschechen wollen nach Deutschland

„Deutschland braucht Tausende von Tschechen“, [versichert](http://byznys.lidovky.cz/potrebujeme-tisice-cechu-zni-z-nemecka-dhl-/moje- penize.asp?c=A110428_212216_ln_domov_mev)Lidové noviny, nachdem die letzten behördlichen Schranken für Arbeitssuchende aus

Mittel- und Osteuropa gefallen sind. In Deutschland und in Österreich gibt es einen Mangel an Technikern, wie im Übrigen auch in der Tschechischen Republik. „Doch im Ausland zu arbeiten ist nicht mehr so wie früher“, erklärt die Prager Tageszeitung. Aufgrund der Stärkung der Tschechischen Krone und den hohen Lebenshaltungskosten in den westlichen Nachbarländern, sind die Löhne kein Traum mehr.“ Lidové noviny fügt dennoch hinzu, dass es sich für Leute, die in Grenznähe wohnten, lohnen könne, da sie von deutschen Gehältern und den

tschechischen Haushaltsausgaben profitieren könnten.

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