Doppelte Staatsangehörigkeit, dein ist die Zukunft

In einer multikulturellen, globalisierten Welt ist es gang und gäbe, mehrere Identitäten zu haben. Deshalb sollten die Staaten, so The Economist, den Zugang zur Nationalität – und zum Wahlrecht – leichter machen.

Veröffentlicht am 11 Januar 2012 um 16:01

Aus der Sicht des Staats ist Mehrstaatigkeit im besten Fall etwas Unüberschaubares und im schlimmsten Fall eine Bedrohung. Den Beamten wäre es am Liebsten, man würde an ein und demselben Ort zur Welt kommen, leben, arbeiten, Steuern zahlen, Leistungen beziehen und sterben, mit nur einem Pass reisen und seinen Sprösslingen nur eine Nationalität vermachen. In Kriegszeiten hat der Staat dann einen alleinigen Anspruch auf die Loyalität seiner Angehörigen – vielleicht auch auf ihr Leben. Staatsbürgerschaft ist der Kleister, der Individuum und Staat zusammenhält. Hantiert man daran herum, geht die Beziehung auseinander.

Doch das Leben ist komplizierter. Loyalität gegenüber politischen Einrichtungen muss nicht exklusiv sein: Oft fällt mehreres zusammen. Viele Juden haben zusätzlich zur Nationalität ihres Geburtslandes auch einen israelischen Pass, aus Solidarität mit dem jüdischen Staat (und auch als Absicherung). Manche Deutsche sind stolz darauf, gleichzeitig Bayern, Deutsche und Europäer zu sein. Iren dürfen in britischen Wahlen wählen. Die alte Auffassung, ein Mensch dürfe nur eine Staatsbürgerschaft haben, wirkt überholt: Mehr als 200 Millionen Menschen leben und arbeiten heute außerhalb ihres Geburtslandes – wollen aber immer noch nach Hause reisen oder dort heiraten oder investieren.

Die falsche Antwort darauf ist politischer Protektionismus, wenn Staaten etwa ihre Bürger dazu zwingen, sich für eine Nationalität zu entscheiden, oder ihr Recht auf mehrere Reisepässe behindern. Das scheint ein seltsamer Ansatz zu sein, wenn eine Staatsbürgerschaft doch so einfach erworben wird. In manchen Ländern stehen sie regelrecht zum Verkauf. In anderen, wie den Vereinigten Staaten, kann sie ein zufälliger Umstand der Geburt sein, ohne jegliche bewusste Entscheidung.

Der Fetisch Pass

Statt den Pass zum Fetisch zu machen, täte man besser daran, den Wohnsitz (vor allem den steuerlichen Wohnsitz) zum Hauptkriterium für die Rechte und Pflichten eines jeden zu nehmen. Das fördert Zusammenhalt und Engagement, denn man entscheidet bewusst, in einem Land zu leben und seinen Regeln zu folgen. Die Welt orientiert sich allmählich darauf zu. Doch viele Staaten – insbesondere arme und schlecht geführte – leisten dem Trend Widerstand und manche reiche Demokratien wie die Niederlande und Deutschland versuchen, ihn einzudämmen und liefern dafür eine Vielzahl von Vorwänden.

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Ein langjähriges Anliegen ist in modernen Ländern offensichtlich veraltet: die Staatssicherheit. Staatsbürgerschaft war wichtig, als die Verteidigung noch auf der Wehrpflicht beruhte. Doch moderne Kriegsführung erfordert keine Armeen mit schlecht ausgebildeten Rekruten. Nur wenige Länder bauen heute noch auf einen vorgeschriebenen Militärdienst und diejenigen, die es tun, schrauben die Einziehung meist zurück. Staatsbürgerschaft ist keine Garantie für Loyalität: Die schlimmsten Verräter der Geschichte waren gebürtige Staatsangehörige. Viele jener, die enthusiastisch für eine Flagge zu kämpfen bereit sind, werden durch die Hölle gehen, um zu ihrem Land zu gelangen.

Bleibt also ein Dschungel von politischen und finanziellen Problemen, die von den Regierungen mit Ausländern assoziiert werden: Sie entziehen sich der Steuer, ergattern Beihilfen oder behalten rückschrittliche Gepflogenheiten aus ihren Ursprungsländern bei. Das tun sie manchmal wirklich. Doch Länder, die rigoros gegen Steuerflucht vorgehen, ihre Landessprache schützen oder ihre Bürger von fremden Sitten wie Zwangsehen abhalten wollen, sollten dies durch spezifische, darauf zugeschnittene Gesetze tun, anstatt sich auf die symbolische Macht der Staatsbürgerschaft zu verlassen.

Von sinnvollen und unsinnnigen Wahlrechten

Amerikas Politik, seine Staatsangehörigen auch zu besteuern, wenn sie im Ausland wohnen, scheint besonders verkehrt. Und was die Beihilfen betrifft, so ist der Wohnsitz zweifellos der Schlüssel. Wenn man in einem Land lebt und dort Steuern zahlt, dann sollte man genauso behandelt werden wie jeder andere Einwohner – und besser als ein Staatsangehöriger, der im Ausland lebt und nicht voll bezahlt.

Das heikelste Problem für ein auf dem Wohnsitz basierendes System ist das Wahlrecht – ein Recht, das seit langem fest mit der Staatsbürgerschaft verbunden ist. Doch auch da gibt es Platz für Kompromisse. In Frankreich und Italien etwa haben Staatsbürger mit ständigem Wohnsitz im Ausland (und oft auch einer doppelten Staatsangehörigkeit) das Wahlrecht. Das macht Sinn. Umgekehrt sollten Staaten Ausländern, die seit langem im Land ansässig sind, das Wahlrecht geben, zumindest für lokale Wahlen. In EU-Staaten ist dies für Staatsbürger aus anderen EU-Staaten bereits der Fall.

Doch es ist falsch, die mehrfache Staatsangehörigkeit rein auf der Basis von Kosten und Problemen zu betrachten. Sie fördert auch die Beziehungen zwischen der (oft wohlhabenden und kontaktreichen) Diaspora und ihrem (gewöhnlich ärmeren) Heimatland, was beiden zugute kommt. Mehrstaatigkeit ist unvermeidbar und im Grunde genommen eher liberal. Man sollte sie feiern.

Doppelte Staatsbürgerschaft

Europa schwimmt gegen den Strom

Überall auf der Welt werden die Regeln für die doppelte Staatsangehörigkeit gelockert. Wie The Economist berichtet, machen etliche EU-Länder das ganze Gegenteil:

In Deutschland, wo die doppelte Staatsbürgerschaft üblicherweise nur Europäern gewährt wird, lehnten die Politiker im November einen Vorschlag ab, der es deutschen Kindern ausländischer Eltern erlaubt hätte, die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern bis ins Erwachsenenhalter zu behalten. In Frankreich müssen Neubürger seit dem 1. Januar eine Charta der Rechte und Pflichten des Bürgers unterzeichnen, mit der sie sich bereit erklären, “sich auf französischem Boden nicht länger auf eine andere Staatsangehörigkeit zu berufen”, selbst wenn die doppelte Staatsbürgerschaft toleriert wird. […]

In Dänemark erarbeitete die Regierung einen Gesetzesentwurf, mit dem die doppelte Staatsangehörigkeit nicht nur Einwanderern seltener gewährt werden soll (2011 erhielten etwa 20.000 Personen die dänische Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung), sondern es den Behörden auch einfacher machen soll, den 850.000 und mehr Vertretern der niederländischen Diaspora die Staatsbürgerschaft zu entziehen, sollte ihnen im Ausland eine zweite Staatsbürgerschaft gewährt werden. […]

2008 stellte der [US-]Think Tank Migration Policy Institute fest, dass weltweit fast die Hälfte der Länder die doppelte Staatsbürgerschaft in irgendeiner Form akzeptiert. […] Ein Grund dafür, dass Ganze liberaler zu gestalten, ist der praktische Nutzen: Es ist immer schwieriger, die doppelte Staatsbürgerschaft zu kontrollieren. Zunehmende Zuwanderung und die wachsende Zahl grenzüberschreitender Eheschließungen führen zu immer mehr Geburten in multinationalen Familien. […]

Regierungen, die viele Einwanderer aufnehmen […] sehen einen Vorteil darin, ihnen ihre alten Pässe zu lassen. Studien zufolge streben Einwanderer, die kein Problem damit haben, ihre ursprüngliche Staatsbürgerschaft aufzugeben, eher eine Einbürgerung in ihre Wahlheimat an; und integrieren sich folglich eher als diejenigen, die eine Aufenthaltsgenehmigung für Ausländer nach der anderen beantragen. (Ob sie sich hinterher aber als bessere oder schlechtere Bürger erweisen, lässt sich nur schwer nachweisen.)

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