Eine gute Wahl

Veröffentlicht am 28 Februar 2013 um 15:29

Das Ergebnis der italienischen Wahlen hat mehr oder minder alle jenseits der Alpen bestürzt, dabei sollten die europäischen Staats- und Regierungschefs lieber einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen: Dank einiger Dezimalstellen entkommen Angela Merkel und Compagnie der Aussicht auf weitere Gipfeltreffen mit Silvio Berlusconi. Die Auferstehung des Cavaliere, Mario Montis Aufsehen erregender Coup und die Benediktion aus Brüssel und Berlin veranlassten die europäischen Medien zu ironischen Seitenhieben gegen die Bundeskanzlerin, deren Segen sich systematisch in ein Todesurteil für die politischen Ambitionen der von ihr Gesalbten zu verwandeln scheint.

Man denkt fast mit Rührung an den Chef der Demokratischen Partei Pier Luigi Bersani, der sich einige Tage vor den Wahlen mit Monti noch darum zankte, wen Angela Merkel wohl am liebsten als Oberhaupt der Regierung sehen würde, ohne überhaupt in Betracht zu ziehen, dass die meisten Italiener, denen diese Entscheidung eigentlich zusteht, weder den einen noch den anderen in diesem Amt haben wollen.

Slavoj Žižek prangerte erst kürzlich die wachsende Missachtung der demokratischen Grundsätze an, die manche nun ganz offen für eine Bedrohung der wirtschaftlichen Stabilität halten. Viele haben sich der Illusion hingegeben, dass Druck und Einschüchterungen genügen würden, um die Wähler davon zu überzeugen, keine Fisimatenten zu machen und so abzustimmen, wie es von ihnen erwartet wird. In Griechenland ging man sogar so weit, die Wahlen, die nicht das erwartete Ergebnis gebracht hatten, zu wiederholen . Aber in Italien sind (noch) keine Neuwahlen geplant. Der Grund dafür ist einfach: Am meisten würden Beppe Grillo , der Mann, der den europäischen Staats- und Regierungschefs noch mehr schlaflose Nächte beschert als Berlusconi, und seine 5-Sterne-Bewegung von Neuwahlen profitieren. Um zu beweisen, dass er nicht weniger borniert ist als seine Rivalin, hat sich Peer Steinbrück , der sozialdemokratische Kanzlerkandidat, beeilt, seinem Entsetzen über den Sieg der beiden „Clowns“ Ausdruck zu verleihen.

Bei näherem Hinsehen erkennt man jedoch, dass sich hinter dem Ausgang dieser Wahlen auch viele gute Neuigkeiten verbergen. Mario Calabresi, Chefredakteur der Tageszeitung La Stampa, betont , dass auf diese Weise viele Übel behoben wurden, die das überalterte und gelähmte Land plagen. So hat Italien heute eines der jüngsten Parlamente Europas. Eine große Anzahl von Frauen und neuen Gesichtern lösen Abgeordnete ab, die seit zwanzig Jahren auf denselben Sitzen verharren. Jedenfalls konnten sich jetzt die Bewegungen zugunsten einer Neuerung, die seit Jahrzehnten mit allen Mitteln gezügelt wurden, endlich ausdrücken.

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Diese Entwicklung ist in erster Linie der 5-Sterne-Bewegung zu verdanken, die sich, Mario Calabresi zufolge, trotz des zweifelhaften persönlichen Werts und der derben Ausdrucksweise ihres Chefs in eine „Zufahrt“ verwandelt habe, über die Dutzende von jungen Outsidern auf die geschlossene Rennstrecke der institutionellen Politik gelangt sind. Diese Personen verdienen Respekt. Sie sind keine von Grillo ferngesteuerten Spielzeugautos. Sobald sie im Parlament sitzen, kommen sie in den Genuss des Wahlgeheimnisses. Viele Wähler der 5-Sterne-Bewegung lehnen das Engagement ihres Parteichefs, mit niemandem zu verhandeln, ab und haben bereits ihre Absicht kundgetan, eine mögliche Regierung der Demokratischen Partei zu unterstützen. Pier Luigi Bersani hat viele Fehler begangen, wenn er nun eine große Koalition mit Berlusconi ablehnt und sich lieber auf die Unterstützung der 5-Sterne-Wähler verlässt, ist das sicher nicht sein schlimmster Irrtum.

Eine Minderheitsregierung unter der Leitung der Demokratischen Partei mit dem Beistand der 5-Sterne-Bewegung wäre etwas extrem Neues und Interessantes in einem Europa der unumstößlichen Koalitionen, in dem Regierungsfähigkeit an oberster Stelle steht, ebenso wie der Brüsseler Konsens. Ein Labor, in dem die Entscheidungen nicht auf der Notwendigkeit beruhen, den Märkten gegenüber eine unerschütterliche Stabilität zur Schau zu stellen, sondern auf einer ständigen Dialektik, die ja eigentlich der Demokratie zugrunde liegen sollte. Nur so können die widersprüchlichen Anforderungen einer stark fragmentierten Gesellschaft wie der italienischen im Besonderen und der europäischen im Allgemeinen auf einen Nenner gebracht werden. Das Programm der 5-Sterne-Bewegung umfasst Anliegen wie die Senkung der Kosten der Politik, die in Europa sicher auf offene Ohren stossen. Andere Forderungen wie das Referendum über die Teilnahme an der Währungsunion sind potenziell explosiv. Aber nach einer nun schon vier Jahre andauernden Krise können die Konflikte in der Union und ihren Mitgliedsstaaten nicht mehr im Rahmen einer höflichen Konversation gelöst werden.

Adriana Cerretelli meinte in Sole 24 Ore : „Angela Merkel hat ihr Bestes gegeben, um die Instabilität bis zur Bundestagswahl im September im Zaum zu halten.“ Sie ist aber offensichtlich gescheitert. Die Staubberge, die sich unter dem Teppich angesammelt haben, bringen den Tisch zum Umkippen. Die Zeit der hitzigen Debatten über grundlegende Fragen ist gekommen, die nicht wie üblich hinter verschlossenen Türen ausgetragen werden. Berlin und seine Alliierten können sich in Italien nicht mehr auf eine Partei stützen. In Spanien, wo das gesamte politische System nur noch an einem seidenen Faden hängt , haben sie bald nicht einmal mehr einen Gesprächspartner. Die Diskussion über die Sparpolitik und die verschiedenen Pläne für die Zukunft der Union muss in der Öffentlichkeit stattfinden. In dieser Hinsicht kommen die europäischen Wahlen 2014 wie gerufen: Vielleicht bietet uns eine europaweite Wahlkampagne – wie vor Kurzem von Andre Wilkens vorgeschlagen –, in der sich die einzelnen Ideen und Ausrichtungen aneinander messen und offen miteinander abrechnen können, eine letzte Chance um zu vermeiden, dass die Fassade des europäischen Konsens mitsamt dem Gebäude einbricht.

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