Ideen Europa zu Zeiten des Covid-19

Was wäre, wenn es die EU nicht gäbe?

Angesichts des anfänglichen Mangels an Solidarität zwischen den europäischen Staaten als die Epidemie in Italien wütete, kritisierten viele Menschen die Union wegen ihrer Trägheit oder beschworen sogar ihr Verschwinden. Wie aber die Folgen der Krise aussehen, wenn es die EU nicht gegeben hätte? Der Ökonom und Historiker Thierry Vissol versucht, eine Antwort zu finden.

Veröffentlicht am 12 Mai 2020 um 11:48

Obwohl die meisten Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der europäischen Bürger die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten als gut oder sehr gut (51%) einschätzt und der Union mehrheitlich vertraut (52%), ist Italien das Land mit den wenigsten positiven Meinungen, sowohl in Sachen Zusammenarbeit (30%), als auch bezüglich des Vertrauens (45% positiv gegenüber 50% negativ). Diese Ansicht spiegelt zwar die schädliche politische Atmosphäre des Landes wider, aber weniger die Fakten oder die Gefühle der Bürger anderer Länder. Eine Umfrage vom Polit-Barometer zeigt zum Beispiel, dass 68% der Deutschen sich für EU-Finanzhilfen für besonders von der Pandemie betroffene Länder wie Spanien oder Italien aussprechen. Darüber hinaus wäre Italien das Land, in welchem die Leute mehrheitlich einen Italexit befürworten würden, und zwar sowohl in der EU als auch in der Eurozone (zwischen 40 und 42% laut Umfragen). 71% der Befragten glauben, dass die Pandemie die Union zerstören wird.

Es ist nicht nötig, an dieser Stelle an die Tausenden von Milliarden Euro zu erinnern, welche die Union für ihre Mitglieder mobilisiert hat und mobilisieren wird, ebenso wenig wie an die Kooperationsprogramme und Agenturen, insbesondere im Bereich der epidemiologischen Forschung. Schauen wir uns stattdessen an, wie die Situation von Ländern wie Italien, Griechenland und Spanien aussehen könnte, wenn es die EU nicht gäbe. Nicht, weil die Folgen für die anderen positiv wären, sondern weil sie aufgrund ihrer Ungleichgewichte in den öffentlichen Finanzen anfälligere Länder sind.  

Angesichts der Komplexität des Arguments nehmen wir nur den Fall Italiens. Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Staatsverschuldung nie unter 100% des BIP gefallen. Die Wachstumsrate ist im Vergleich zu anderen Ländern deutlich niedriger geblieben, ebenso wie die Investitionsraten, so dass sein BIP-Gewicht in der EU seit Anfang des Jahrhunderts um 3 Prozent gesunken ist. 

Dieses Land erlebt eine erhebliche Abwanderung seiner Jugend, wobei die Zahl der Auswanderer in den letzten Jahren die Zahl der Einwanderer übertroffen hat. Der Zugang zum internationalen Finanzmarkt bleibt trotz voller Unterstützung durch die EZB einer der teuersten, da sein Schuldenrating nahe bei Schrottanleihen (junk bonds) liegt (BBB+ für Standard and Poors und BBB- für Fitch). Die Auswirkungen der Krise werden die Staatsverschuldung jedoch auf mindestens 170% des BIP ansteigen lassen. So wird Italien bis Ende des Jahres 150 Milliarden Euro an Liquidität und 200 Milliarden Euro an fälligen Wertpapieren benötigen, die erneuert  werden müssen. 

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Hätte Italien eine solche Situation erreicht, wenn es die EU nicht gegeben hätte? Wahrscheinlich nicht, denn das Land wäre schon längst bankrott gewesen. Es hatte die Krise von 1992-1993 nur dank der Unterstützung anderer Länder, der Flexibilität des Europäischen Währungssystems, eines EIB-Darlehens von 1 Milliarde ECU (damals die gemeinsame Währung) und der von der Union empfohlenen Sparmaßnahmen überwunden. Die Abwanderung aus dem Land hat sich jedoch seit Anfang der 2000er Jahre fortgesetzt, obwohl das Land dank der Teilnahme am Euro von niedrigeren Zinssätzen profitiert hat. Die Krise der Jahre 2008-2012 wäre ohne den Schutz der Eurozone, und ohne die Flexibilität ihrer Regeln, sowie die Unterstützung der EZB wahrscheinlich fatal gewesen, « wathever it takes » – was immer es auch kostet, meinte ihr damaliger Gouverneur.

 

Hätte Italien rechtzeitig und ausreichend Hilfe von China und Russland erhalten? Nichts ist unsicherer. Tatsächlich traf die erste Unterstützung aus China (ein 30-köpfiges medizinisches Team, Masken und sanitäre Ausrüstung) erst am 12. März ein, die aus Russland am 22. März. Leider waren viele dieser Hilfsmittel technisch nicht angemessen (Atemschutzgeräte) oder nicht konform (Masken) und in jedem Fall nicht ausreichend, um den Bedürfnissen gerecht zu werden. Russische Militärlastwagen enthielten Produkte von Firmen, die unter Embargo standen, und viele von ihnen waren nicht konform. Schließlich leitete die EU eine Woche später die gesamte chinesische Hilfe, die sie erhalten hatte, über den EU-Katastrophenschutz Mechanismus (CPMU) an das Emergency Response Coordination Centre (ERCC) nach Italien weiter.

 

Ohne die EU wären die makroökonomischen Auswirkungen verheerend gewesen. Zwar hätte sich die Bank von Italien durch den Rückkauf von Staatsschulden Geld beschaffen können, aber dies hätte direkte Auswirkungen auf die Inflation, und gleichzeitig eine Abwertung des Wechselkurses mit sich gebracht. Das wiederum hätte zu Kapitalflucht und zum Abzug ausländischer Investitionen geführt. Die Exporte, deren Wettbewerbsfähigkeit mehr von der Technologie als vom Preisniveau abhängt, wären durch die Währungsabwertung nicht stimuliert worden, zumal die Wirtschaft und die Landwirtschaft zum Stillstand gekommen sind. 

 

Auf der anderen Seite wären die Kosten der Importe, insbesondere der Energieimporte, gestiegen (trotz des Rückgangs der Ölpreise), was die Wettbewerbsfähigkeit umso mehr verringert hätte. Schließlich würde das  Schulden-Rating auf den Status von Schrottanleihen herabgestuft, was den Zugang zu den internationalen Finanzmärkten nahezu unmöglich gemacht hätte. Kurz gesagt: Ein kompletter Bankrott mit den damit einhergehenden sozialen Missständen und Armut. Eine Situation, die Argentinien Ende der 1980er Jahre und erneut zwischen 1998 und 2002 erlebt hat, und aus der es dank der Hilfe des IWF und der drastischen Maßnahmen, die dem Land auferlegt wurden, nur schwer wieder herauskam … Und daran ist nicht Europa schuld.

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