Sie feiern den Wahlsieg von Bidsina Iwanischwili. Georgien, 1. Oktober 2012.

EU lässt Georgien fallen

Noch nie in der Geschichte des postsowjetischen Georgiens wurde eine Regierung demokratisch abgelöst. Dem Milliardär Bidsina Iwanischwili ist das gelungen. Aber Westeuropa verliert kaum ein Wort darüber und zeigt damit einem seiner treuesten Unterstützer die kalte Schulter, meint ein polnischer Kolumnist.

Veröffentlicht am 3 Oktober 2012 um 15:06
Sie feiern den Wahlsieg von Bidsina Iwanischwili. Georgien, 1. Oktober 2012.

Die Niederlage der Partei Vereinte Nationale Bewegung (VNB) bei den Parlamentswahlen am Montag läutet das Ende der neunjährigen Amtszeit von Staatspräsident Michail Saakaschwili ein. Dabei könnte man meinen, es handele sich dabei um seinen größten Sieg.

Saakaschwilis Amtszeit prägt ein einzigartiger demokratischer Regierungswechsel – eine Premiere in der Geschichte des Kaukasus! Saakaschwili hätte die Wahlen manipulieren, seine politischen Gegner verhaften oder die ihm feindlich gesinnten Medien knebeln können (all das hatte er zuvor getan). Stattdessen entschied er sich aber, das vernichtende Urteil seiner Bürger zu akzeptieren. Dafür wird er in die Geschichte eingehen.

„Wir haben die Wahlen verloren und gehen nun in die Opposition... Wir müssen lernen, zusammenzuarbeiten“, erklärte Saakaschwili am Dienstag in einer Fernsehansprache.

Es ist ein Präzedenzfall für die ganze Region. In wenigen Ländern jenseits der östlichen EU-Grenze wäre ein solches Szenario möglich gewesen. Bisher scheint nur die Republik Moldau wirklich demokratisch zu handeln. Und ob die Ukraine noch an demokratischen Grundwerten festhält, wird sich bei den Parlamentswahlen am 28. Oktober zeigen.

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EU-Flaggen an öffentlichen Gebäuden

Alle anderen postsowjetischen Länder sind autoritäre Staaten, die sich nur dadurch unterscheiden, dass sie [Oppositionelle] mehr oder weniger gewaltsam unterdrücken. Drücken wir es einmal so aus: Im Gegensatz zu Aserbaidschan schießt die Polizei in Russland nicht auf streikende Arbeiter. Und der turkmenische Diktator Gurbanguly Berdimuhamedow hat mehr Todesopfer zu verantworten als sein weißrussischer Amtskollege Alexander Lukaschenko. An diesem Firmament leuchtet der georgische Stern folglich ganz besonders hell.

In der Europäischen Union, die Demokratie und Freiheit zu ihrem ganz persönlichen Kult gemacht hat, sollte dies doch eigentlich wahrgenommen und gelobt werden. Aber nichts dergleichen ist geschehen. Den einzigen offiziellen Kommentar verfasste die Hohe Vertreterin, Catherine Ashton. Die Diplomaten in Berlin, Paris und London glänzten durch Schweigen. Und auch in den Medien wurde verhältnismäßig wenig darüber berichtet.

Dabei hat Georgien unter Saakaschwili enorme Fortschritte gemacht, wodurch seine sowjetische Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit verblasst ist. Saakaschwili ließ riesige öffentliche Gebäude bauen, öffnete das Land für Auslandsinvestitionen und ging erfolgreich gegen Korruption vor. Genau deshalb hassen ihn die russischen Spitzen so sehr.

Umfragen haben ergeben, dass Russland Georgien gegenüber noch feindlicher gesinnt ist als den USA. Das kleine Land im Kaukasus trug dort einen Sieg davon, wo das mächtige Russland scheiterte: Erfolgreich brachte es seinen Polizeibeamten bei, keine Schmiergelder mehr anzunehmen. In Georgien kann man heutzutage ganz beruhigt Geschäfte abwickeln, ohne befürchten zu müssen, im Gefängnis zu landen.

Saakaschwilis Amtszeit hat aber auch ihre Schattenseiten: Seine liberalen Wirtschaftsreformen ließen die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen und immer mehr Menschen in ein Leben in Armut abrutschen. Die riesigen Staatsprojekte wurden mit Krediten finanziert, die getilgt werden müssen. Zudem bieten Unternehmen immer wieder Bestechungsgelder an, um einen der äußerst lukrativen öffentlichen Aufträge zu erhalten.

Wenn man durch Tiflis fährt, stechen aber vor allem die EU-Fahnen ins Auge, die an jeder öffentlichen Einrichtung angebracht sind. Saakaschwili, den seine westlichen EU-Kollegen für verrückt hielten, ist es gelungen, seine Landsleute so sehr für Europa zu begeistern, wie es längst nicht einmal mehr in Deutschland oder Frankreich möglich war. Die Georgier glauben daran, dass die EU und die NATO ihrem Land Sicherheit und Stabilität bringen.

Rettungsanker Östliche Partnerschaft

Das Problem ist, dass Europa Georgien nicht viel zu bieten hat. Obwohl man den Georgiern 2008 zum NATO-Gipfel in Bukarest versicherte, dass man ihnen ganz sicher die Mitgliedschaft ermöglichen werde, ist dies bis heute nur ein loses Versprechen geblieben. Und über den EU-Beitritt, beziehungsweise eine engere Assoziation wird nicht einmal mehr geredet. Europa hat selbst zu viele Probleme. Da ist es natürlich unmöglich, auch noch an seine Nachbarn zu denken.

Georgien sieht sich selbst seit Jahrhunderten als ein europäisches Land. Für Europa gehört es gegenwärtig aber nur zur entferntesten Peripherie [des Kontinents]. Trotz aller Anstrengungen vonseiten Warschaus, Prags und Stockholms hat sich daran nichts geändert. Zudem setzt [Europa] sich viel stärker den von Moskau ausgehenden Gefahren aus, wenn es Tiflis unterstützt – wie im Krieg, den [Russland] 2008 gegen seinen Nachbarn führte und in dem es ihn um die umstrittenen Provinzen Südossetien und Abchasien erleichterte. Vom politischen Standpunkt aus lohnt es sich weder für Paris noch für Berlin, sich in diesen Streit einzumischen.

Das Einzige, worauf sich die Georgier verlassen können, ist die Östliche Partnerschaft, in deren Rahmen sie unter anderem auf gleicher Augenhöhe wie die aserbaidschanische Diktatur agieren. Ursprünglich sollte das Partnerschaftsprojekt zur Annäherung der ehemaligen Sowjetrepubliken an Europa dienen. In einer Zeit, in der Europa aber nur Augen für die arabischen Staaten hat, ist ein solches Vorhaben zum Scheitern verurteilt.

Die georgischen Wahlen stießen in Europa auf taube Ohren. Damit wendet die EU ihrem hartgesonnenen Anhänger nicht nur den Rücken zu, sondern signalisiert auch klipp und klar, dass sie eigentlich wenig auf die Demokratie im Osten gibt. (jh)

Aus Georgien

Eine ganz neue Situation

Damit hat Georgiens Staatspräsident Michail Saakaschwili „nicht gerechnet“, jubelt die georgische Zeitung Sakartvelo da Msoplio und führt fort: „Das Volk hat denjenigen verjagt, der uns neun Jahre lang in den neun Höllenkreisen schmoren ließ“. Mit diesen Worten kommentiert die dem Milliardär Bidsina Iwanischwili nahestehende Zeitung die Wahlniederlage der Partei Saakaschwilis, Vereinte Nationale Bewegung (VNB) vom Vortag. 55 Prozent der Wähler hatten für Iwanischwilis Partei Georgischer Traum - Demokratisches Georgien gestimmt, nur 40 Prozent für die VNB.

Für die Zeitung Sakartvelo da Msoplio stellt sich ab sofort folgende Frage: Legitimiert das Volk oder der US-Boschafter Iwanischwili? Zudem fordert das Blatt Saakaschwili auf, sich für den „verlorenen Krieg“ gegen Russland im August 2008, die „besetzten Gebiete“ Abchasien und Südossetien und „zehntausende Flüchtlinge“ zu rechtfertigen.

Resonansi spricht dagegen von einer ganz neuen Situation in Georgien: Saakaschwili wird bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit in einem Jahr mit seinem Erzfeind Iwanischwili zusammenarbeiten müssen. Während die beiden Betroffenen sich bereits dazu bereit erklärt haben, in der Übergangszeit zu kooperieren, hat der designierte Premierminister schon jetzt angekündigt, dass kein einziges Mitglied der bisherigen Regierung in seinem Kabinett tätig sein wird.

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