“Europa zerbricht im Kopf”

Veröffentlicht am 4 November 2011 um 14:20

Folge des angekündigten griechischen Referendums? Demokratie und der Wähler rücken ins Interesse der europäischen Presse. “Die Deutschen haben auch ein Recht auf ein Referendum”, schreibt die Times. Schluss mit Stänkerei zwischen Nationen, fordert Le Figaro.

“Platz oder raus!”, so sieht in Paris Mediapart die Alternative, vor die Angela Merkel und Nicolas Sarkozy in Cannes den griechischen Regierungschef gestellt haben. In Europas Presse wurde das geplante Referendum in Griechenland als Niederlage der Krisenpolitik der letzten Monate eingestuft – und von den Dächern gerufen.

Der Cartoonist im International Herald Tribune sieht in Europas Politik-Elite nur noch ein eine hysterische Party-Meute. Die flämische Tageszeitung [De Morgen vergleicht](http:// 
http://www.demorgen.be/dm/nl/2462/Standpunt/article/detail/1342893/2011/11/03/Zenuwachtig.dhtml)Angela Merkel und Nicolas Sarkozy dagegen...

mit kleinen Hunden, die vor den “Nervösen Märkten” Schwanz wedeln und den bösen Griechenmann von seinem Vorhaben abbringen wollen. Damit die Märkte sich beruhigen. Der griechische Volksentscheid ist vielleicht nicht die beste Idee. Aber die Demokratie auf den Willen von Politikern zu beschränken, deren Handlungsmacht nicht über die Umsetzung von Diktaten “Nervöser Märkte” hinausgeht, ist ein noch schlimmeres System.

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Mediapart will auch ein paar Namen klingen lassen und identifiziert drei Verantwortliche im Euro-Dilemma: Giorgos Papandreou, Nicolas Sarkozy, Angela Merkel, “drei Akteure, drei Niederlagen”, titelt die Zeitung. Folgt die lange Fehlerliste, beginnend mit Papandreou “fader Erbe einer der zwei griechischen Dynastien, die sich seit 35 Jahren die Macht teilen”, und dessen Legitimität fast mit Amtsantritt schwand. Nicolas Sarkozy, der seine starke Position in Europa bei Mandatsbeginn vor allem dazu einsetzte, um Europa zu schwächen, mit Hermann Van Rompuy, José Manuel Barroso und Catherine Ashton drei blasse Gestalten an die Spitze der Union stellte, und alles auf die deutsch-französische Karte setzte – nur um hier jedes Mitspracherecht zu verlieren. Und schließlich Angela Merkel, die zu ihrer ersten Priorität die hochheilige Stabilität des Euro erklärte, und dann erst an Solidarität mit den Griechen dachte.

Was für eine Vision hat Deutschland heute von der EU? Die eines starken Binnenmarktes, natürlicher Absatzmarkt seiner Exporte, und mit einer starken Währung: die des Europa von vor dreißig Jahren, vor der Euro-Schaffung, vor der Erweiterung auf 27. Denn über das 'historische' Mitglied Griechenland wird allen Anwärterländern eine Nachricht geschickt: Ihr Beitritt wird zu deutschen Bedingungen stattfinden, oder gar nicht.

“Allerdings greift die intergouvernementale Chef-Zentrierung mit deutscher Grundierung die Grundfesten der europäischen Integration an”, hält der Wiener Standard dagegen.

Diese Krisenfolge könnte längerfristig für die EU zerstörerischer wirken als die Krise selbst - was auch im deutschen Interesse nicht ist.

Verständlicherweise sind deutsche Wähler verärgert, wenn sie in griechischen Zeitungen als Nazis dargestellt werden, merkt der Daily Telegraph an. Schließlich arbeiteten sie mehr Jahre, in härteren Jobs und bekämen kaum denselben Lohn wie vor 10 Jahren. Verständlich, dass sie ihre Ersparnisse nicht den Griechen opfern wollten. Bloß hilft das nichts.

Eines ist nicht zu vergessen. Gläubiger brauchen Schuldner. Oder, um jemand anderen zu zitieren: Wenn du der Bank 100 Dollar schuldest, dann hast du ein Problem. Wenn du der Bank 100 Millionen Dollar schuldest, dann hat die Bank ein Problem. Die Deutschen können nicht in Griechenland einfallen und kostenlos Urlaub auf den Inseln machen. Sie können nicht Kreta übernehmen und es zu einem Bundesland erklären. Sie müssen akzeptieren, dass Griechenland nicht zahlen kann, und dass die einzige Alternative zu Deutschlands finanziellem Einspringen die Katastrophe ist.

“Deutschlands Ängste sind genauso gefährlich wie Griechenlands Fehler”, gibt in London die Times dazu, die Europa von Pyrrhussieg zu Pyrrhussieg eilen sieht. Wie seit Monaten fordert das Blatt aus London, den Rettungsfonds mit mehr Schubkraft und die EZB endlich als echten Kreditgeber auszustatten. Auch gegen Deutschlands Willen. Denn:

Erinnerungen an Weimar haben die Antwort von Angela Merkels Regierung auf die Krise tief geprägt. Aber in seiner Angst vor Inflation und Schubkarren voll wertlosen Papiers, die durch die Straßen rollen, hat Berlin die verheerenden Folgen von zu harter Sparpolitik ignoriert. […] Deutschlands derzeitiges Verhalten erlegt Griechenland, Italien und Spanien Deflation auf. Und die Geschichte lehrt uns, dass Demokratien nur selten eine Deflation überleben.

Deutsche Wähler könnten mit Recht ein eigenes Referendum darüber fordern, ob mit ihrem Steuergeld die Mittelmeerländer gerettet werden dürfen. Aber sie müssen sich auch bewusst sein, dass sie vom Euro enorm profitiert haben. Wenn Giorgos Papandreou die Deutschen dazu bringt, ihre Politik neu zu überdenken, dann könnten sich Europas Aussichten verbessern. Die Demokratie sollte nicht Opfer dieser Krise werden.

Im Figaro schließlich greift einer von Frankreichs Nationalphilosophen in die Debatte ein. Seine Analyse: Die Kurzfristigkeit politischer Prozesse mit ihren Gerüchten und erhöhter Unsicherheit stehe am Anfang des ganz großen Übels, schreibt André Glucksmann und schwingt sich hinauf zu einem Plädoyer auf die ideologische Selbstverteidigung des modernen Europa:

Mal macht man sich über den Hedonismus à la 'Club Med' der südeuropäischen Zikaden lustig, mal über die sture Gefühlskälte der lutherischen Ameisen. Seht her! Man will sogar glauben, dass die Überlegenheit des deutschen Modells von der unnachahmbaren Disziplin einer germanischen Seele kommt. Zu einfach! Die Effizienz des deutschen Wirtschaftsmodells speist sich aus sozialen Entscheidungen, spätestens seit Bad Godesberg ist der Klassenkampf nicht mehr von der Partie. [...] Zwischen Nord- und Südeuropa streiten nicht zwei politische Strategien, oder spirituelle Optionen, sondern zwei Gesellschaftsmodelle. [...]

Erinnern wir uns, dass die EU, die sich langsam aus dem Eisernen Vorhang herausschälte, drei Willensbekundungen respektierte: Antifaschismus, Antikommunismus, Antikolonialismus. Das Ursprungsprogramm droht jetzt ins Vergessen zu geraten, wenn [ein Gerhard Schröder] sich mit Putin einlässt, oder wenn man mobil macht gegen seinen Nachbarn, den Türken, den Maghrebiner, den Roma. Das Gefälle ist gefährlich und bringt einen Italiener dazu, einen Deutschen anzuklagen, einen Deutschen, einen Griechen zu verstoßen, einen Griechen, sich gegen ganz Europa zu erheben und einen Franzosen, die ganze Welt zu entglobalisieren und die Maginot-Linie neu zu erfinden. Unser vergessliches Europa bricht nicht so sehr in seiner Wirtschaft zusammen, sondern in seinem Kopf.

In Zusammenarbeit mit Spiegel Online.

Foto: Le Monde.

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